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Meinung: MY BERLIN Die italienische Jacke

Der Kanzlerurlaub bleibt Quelle größter Faszination. Sicher werden Doktorarbeiten über den außergewöhnlichen Vorfall geschrieben werden, Gerhard Schröders Kubakrise: der historische Moment, als er Berlusconi, den Nikita Chruschtschow der Gegenwart, niederrang.

Der Kanzlerurlaub bleibt Quelle größter Faszination. Sicher werden Doktorarbeiten über den außergewöhnlichen Vorfall geschrieben werden, Gerhard Schröders Kubakrise: der historische Moment, als er Berlusconi, den Nikita Chruschtschow der Gegenwart, niederrang. Italienisch-deutsche Stiftungen werden aus dem Boden sprießen, um es Jungpolitikern finanziell zu ermöglichen, Schröders mutigem Kurs zu folgen und zu Hause zu bleiben. Die deutschen Stipendiaten werden Zuschüsse erhalten, damit sie den Chianti und die Armani-Socken in Hannover kaufen; von den italienischen Kandidaten wird erwartet, dass sie „Bild“ am Strand von Rimini lesen.

Wie immer gerät bei solchen Stiftungen die schlichte Wahrheit ins Hintertreffen: dass Schröder gar nie vorhatte, in Italien Urlaub zu machen. Kein Politiker verlässt sein Heimatland, wenn seine Beliebtheitskurve gerade nach oben zeigt. Ehrlich gesagt, kann ich den Kanzler verstehen. Ich mag Urlaub auch nicht. Das ist ganz gut so, denn meine Arbeitgeber mögen meinen Urlaub ebensowenig. Bei der „Times“ scheint man Urlaub für eine inakzeptable Unterbrechung des geregelten Lebens zu halten. Und das sieht so aus: aufstehen um 6, Zeitung lesen um 7, zur Arbeit fahren um 8, am Schreibtisch sitzen um 9, Fleiß ohne Unterlass bis 20 Uhr, eine Stunde Rückfahrt, Nachrichten um 21 Uhr, Streit mit Ehefrau (wahlweise), Anruf im Büro, Beantworten der E-Mails, Schlafen (wahlweise).

Der einzige echte Urlaub, den die angelsächsische Arbeitsethik kennt, ist jene Zeit, die man dem Arbeitgeber während des Tages klaut. Wir nennen es das „italienische Jacken-System“ und seit Jahre schon versuche ich die Tagesspiegel-Redakteure von dessen Vorteilen zu überzeugen. Jeder Journalist weiß, dass es sinnlos ist, irgend etwas zwischen der ersten Redaktionskonferenz (endet gegen 12) und der zweiten (beginnt gegen 15 Uhr 30) zu schreiben oder zu recherchieren. Die Chefs ändern schließlich ihre Meinung doch wieder. Dennoch wird während dieser Zeit physische Präsenz verlangt.

Der intelligente Redakteur delegiert diese Aufgabe an eine zweite Jacke, ein elegantes Kleidungsstück, das über die Rückenlehne des Stuhles gehängt wird. Neben dem Computer ein offenes Notizbuch, eine Kaffeetasse vielleicht noch – und schon kann man für drei Stunden verschwinden. Näher komme ich einem Urlaub normalerweise nicht. Diese gestohlene Zeit, 15 Stunden pro Woche, summiert sich auf bis zu 30 Tage im Jahr: bei weitem befriedigender als an einem Strand mit streitenden Kindern mit Sonnenbrand zu sitzen.

Um das Bild weiterzuspinnen: Schröder hat seinen italienischen Urlaub gegen eine „italienische Jacke“ eingetauscht, und wahrscheinlich ist er so viel glücklicher. Das wesentliche Problem des Urlaubs ist das Flaubert’sche Paradox von Erwartung und Erinnerung: Die Vorfreude und die Erinnerung sind viel kostbarer als das Ereignis selbst.

Ohne Frage, Urlaub ändert die Gangart des Lebens. Aber Kriege und Revolutionen tun das auch. Veränderung ist gut, solange sie neue Ideen hervorbringt oder Anlass zum Nachdenken bietet. Wir alle kennen jedoch Familienurlaube: Wie viel Zeit zum Nachdenken bieten die? Urlaub, wie das restliche Leben auch, ist ein Kampf um verloren gegangene Zeit – plus dem ärgerlichem Sand in der Hose, den Mückenstichen, den Staus auf der Autobahn und dem Gebrüll der streitenden Familie. Bleiben Sie lieber zu Hause.

Der Autor ist Korrespondent der britischen Tageszeitung „The Times“. Foto: privat

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