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My BERLIN: Guter Bahn-Chef, schlechter Bahn-Chef

Beim Gedanken an Hartmut Mehdorn muss Roger Boyes an ein Märchen denken: Die Prinzessin auf der Erbse.

Vor langer, langer Zeit gab es einmal ein Mädchen, das konnte die Welt nur so davon überzeugen, dass es eine Prinzessin ist, indem es eine Nacht auf 20 Matratzen verbrachte, ohne für einen Moment zu schlafen. Und das lag an einer Erbse, die unter den Matratzen versteckt war und ihr in die Haut gedrückt hatte. So empfindlich war sie und deshalb von hoher Geburt.

Ich musste an Andersens Märchen denken, als ich unlängst las, dass Hartmut Mehdorn, der dünnhäutige Prinz von Bahnien, schlecht schläft. Wenn es wieder einmal spät wird im 25. Stock des Bahntowers am Berliner Potsdamer Platz, schrieb der „Stern“, ruft er die „berüchtigte Rotweinrunde“ zusammen. Die Höflinge verlassen dann ihre Wohnungen am Potsdamer Platz, steigen aus den Betten und kehren ins Büro zurück, um den nächtlichen Gedanken ihres Vorsitzenden zu lauschen. Ich möchte betonen – bevor mein Chefredakteur einen weiteren wütenden Brief aus dem Bahntower erhält –, dass ich diese Praxis weder kritisieren noch beurteilen möchte. Große Führer kommen oft nachts am besten voran, ohne die Telefonklingelei. Sie haben ihre klügsten Ideen nach Mitternacht. Fidel Castro war so. Josef Stalin. Auch Bill Clinton. Schlaflosigkeit ist Teil des Jobs.

Und im Moment ist die Stimmung im Bahnturm natürlich ein wenig angespannt. Wegen des Spitzelskandals. Der „Stern“ spricht von einem „Regime der Angst“, was laut meiner Quelle – schmeißt sie bitte nicht raus! – eine absurde Übertreibung ist. Man denkt schlicht zweimal nach, bevor man eine E-Mail schreibt oder das Telefon benutzt.

Tatsächlich bin ich aufseiten des Prinzen, ich bin ein Mehdorn-Versteher, einer der wenigen. Für ein Buchprojekt habe ich die Privatisierungsprozesse in Großbritannien, Island und Russland miteinander verglichen. Gleichgültig, wie verankert die Demokratie ist, es kommt immer zu Fällen von Korruption – normalerweise in den 18 Monaten vor einem Börsengang. Das Misstrauen der Bahn ist also angebracht. Natürlich müssen auch DB-Detektive die Gesetze beachten. Aber selbst wenn sie das nicht tun, ist es noch lange kein Grund, Mehdorn rauszuschmeißen – es sei denn, dass er die illegalen Maßnahmen selbst angeordnet hat. Soweit ich weiß, gibt es dafür keine Indizien.

Nein, der wahre Grund für einen Rauswurf ist: Sicherheit. Es ist einige Monate her, dass der ICE 518 vor dem Kölner Bahnhof teilweise von den Gleisen kam. Der Grund war eine gebrochene Radsatzwelle, und das, kaum überraschend, machte alle im Zuguniversum ein wenig nervös. Kurz zuvor war der ICE 518 noch mit 300 Stundenkilometern zwischen Frankfurt und Köln unterwegs gewesen. Es hätte zu einem zweiten Eschede kommen können.

Die Bahn reagierte auf diese Krise mit der ihr eigenen Logik: Züge wurden aus dem Verkehr gezogen, damit sie getestet werden könnten. Das führte zu Verspätungen. Freundliche DB-Mitarbeiter verteilten gratis Mineralwasserflaschen an frustrierte Reisende. Die mussten feststellen, als ein Ersatzzug endlich auftauchte, dass die Toiletten gesperrt waren, weil sie sich samt ihrer schweren Wassertanks über den möglicherweise tödlichen Achsen befanden. Also drückten wir die Daumen und unsere Oberschenkel zusammen und verfluchten die Bahn. Aber die Bahn verhielt sich absolut korrekt: Sicherheit geht vor Komfort.

Das Problem entstand etwas später, im vergangenen Herbst, nachdem das Eisenbahnbundesamt darauf bestand, dass die Inspektion der Züge alle 30 000 Kilometer statt alle 300 000 Kilometer durchgeführt werden sollte. Mehdorn beschwerte sich darüber beim Verkehrsminister: „Die jetzt geforderten Maßnahmen sind unverhältnismäßig und versuchen ein nicht existentes Problem zu bewältigen“ („Der Spiegel“).

Das war meiner Meinung nach der Moment, an dem man Hartmut Mehdorn hätte bitten müssen zu gehen. Sicherheit, das stimmt, ist immer relativ; Risiko kann niemals vollkommen eliminiert werden. Aber die Leute fahren Bahn, auch weil es sicherer ist als Fliegen oder als das Auto. Das ist Teil des Geschäftsmodells der Bahn. Eschede hat diesem Image Schaden zugefügt. Nachdem die minderwertigen Achsen entdeckt worden waren, hätte Mehdorn eiligst den kompletten Austausch aller verdächtigen Achsen in allen ICE-3-Zügen anordnen sollen. Ich weiß nicht, wie teuer das gewesen wäre, aber es wäre billiger gewesen als die menschlichen – und ökonomischen – Kosten eines zweiten Eschede.

Natürlich hätte das zu weiteren Verspätungen und Umsatzverlusten geführt. Aber ein guter Bahn-Chef hätte mit seinen Überredungskünsten die Deutschen davon überzeugt, dass er das Restrisiko minimieren wolle. Dafür wäre Führung nötig gewesen, eine offene, demütige, schuldbewusste Haltung. Vorstandschef der Deutschen Bahn zu sein, bedeutet mehr, als Beamter oder Manager zu sein; man muss ein Politiker sein, der fähig ist, mit seinen Bürgern in einen Dialog zu treten. Mehdorn besitzt diese Qualitäten nicht. Er streitet mit den Zugherstellern über die Kosten für die Ersatzteile; er streitet mit dem Eisenbahnbundesamt, mit dem Verkehrsministerium, mit seinen Mitarbeitern; er ist in einem ständigen Kriegszustand. Manchmal glaube ich, dass aus Prinz Hartmut ein König Lear geworden ist.

Der Autor ist Korrespondent

der britischen Tageszeitung „The Times“. Aus dem Englischen übersetzt von Moritz Schuller.

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