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My BERLIN: Lasst Bücher reisen!

Sredzkistraße: Hier kann man spanisch essen, zum Italiener gehen, Kartoffelsuppe bestellen.

Kollwitz-/Ecke - Der Geruch von Waffeln liegt in der Luft und widersetzt sich allen physikalischen Regeln. Es ist zu früh, um etwas zu essen, und gleichzeitig zu spät dafür. Ich setze mich hin und warte auf die Bedienung. Es gibt nichts zu lesen, außer einer Speisekarte voller Rechtschreibfehler. Mein Blick schweift durch die Scheibe. Draußen entdecke ich den Bücherwald. Das sind drei mannshohe Holzstämme. In diese wurden Löcher hineingeschlagen, um dort Bücher zu platzieren. Eine durchsichtige Folie schützt die Regale vor Feuchtigkeit.

Zugegeben, die Auswahl an Büchern entspricht nicht ganz meinem Geschmack: „Kaufmännische Buchhaltung“, „So schnell geht’s mit Mikrowelle!“, „Biologie und Ideologie“, Konsalik, Gorbatschow. Aber es gibt Strubes „Wagnis und Furcht des Nikolaus Kopernikus“, und alles ist kostenlos – mein Mittagessen ist gerettet. Das Ganze beruht auf einer faszinierenden Idee. Die Baumstämme kommen aus dem Grunewald. Ein schlauer Förster brachte das Holz in die Stadt, Schreinerinnen mit einem Faible für kreative Gestaltung dachten sich die Sache mit den Regalen aus.

Konrad Kutt, mein Nachbar in Grunewald, ich bezeichne ihn als kulturellen „Unruhestifter“, drückt es so aus: Die Bäume sind ein perfektes Beispiel für Nachhaltigkeit in der Stadt. Bäume, Papier, Bücher – alles intelligent recycelt. Zusammen mit anderen will Kutt erreichen, dass an vielen Orten in Berlin solche Stationen zum Büchertausch entstehen. Er ist auf der Suche nach guten Ideen und nach Sponsoren – nach so jemandem wie Hans Wall vielleicht, der begriffen hat, dass Kapitalismus und Philanthropie zusammengehören. Oder vielleicht nach einigen Bankern, die verstanden haben, dass ihr Ansehen unterirdisch bleiben wird, solange sie nichts für die Gesellschaft tun.

An dieser Stelle sollte ich allerdings erwähnen, dass ich nicht an die Rettung der Welt glaube. Ich bin mir noch nicht einmal sicher, ob wir die Wale retten sollten. Ich bin überzeugt davon, dass jeder zunächst einmal seine Kinder beschützen sollte, dann sich selbst, seine Freunde, seine Kneipe und seinen Kiez, mehr oder weniger in dieser Reihenfolge. Aber der Gedanke gefällt mir, dass durch den Tausch von Büchern eine unsichtbare Gemeinschaft entsteht. Bücher sollten befreit werden, es sollte ihnen erlaubt werden, ihr eigenes Leben zu führen.

Anderntags stieß ich im Oxfam-Laden am Ku’damm auf ein Buch, das ich ein Jahr zuvor weggegeben hatte, mein Zweitexemplar von Christoph Amends Buch über weise Deutsche. Es wurde von Oxfam verkauft. Anscheinend war das Buch wie ein Rucksacktourist durch halb Europa gereist und kam jetzt nach Hause, um die dreckige Wäsche zu waschen. Ich kaufte das Buch wieder. Bei Wohltätigkeitsläden wie Oxfam hat man immer ein gutes Gefühl, weil man denkt, dass man gerade ein Leben in Somalia rettet oder zumindest den Kauf eines halben Esels in Darfur bewirkt. Der Büchertausch ist anders. Es ist ein Versuch, um ein Buch herum eine Gemeinschaft zu bilden.

Dabei hilft inzwischen auch das Internet unter der Webseite www.bookcrossing.com. Dort kann man jedes gefundene Buch registrieren lassen – wie bei einem Zugvogel, dem ein Mikrochip verpasst wurde. Andere Leser können berichten, wohin das Buch gewandert ist. In Deutschland sind bisher etwa eine halbe Million Bücher registriert worden, jedes mit einer eigenen Seite, so eine Art Facebook für Bücher. Ich finde das faszinierend.

Nachdem ich zuletzt ein Buch auf Deutsch veröffentlicht hatte, schickte ich meine Praktikantin mit einem Exemplar in die U-Bahn und verlangte von ihr, sie solle alle drei Minuten laut lachen. Idealerweise hätte ich eine ganze Gang von Praktikantinnen engagieren müssen, wie Fagins Straßenjungs in „Oliver Twist“, die laut lachend durch Berlins Nahverkehrsnetz ziehen würde. Das hätte den Verkauf gesteigert.

Jetzt bin ich gerade dabei, ein anderes Buch fertigzustellen, einen Liebesbrief an die Mark Brandenburg, und diesmal werde ich nicht aufs Lach-Marketing setzen. Ich werde einfach 100 Exemplare in verschiedenen Ecken der Stadt liegen lassen, ihnen Bookcrossing-Nummern verpassen und schauen, wohin sie reisen. Ich wünsche ihnen allen viel Glück!

Aus dem Englischen übersetzt von Fabian Leber.

Roger Boyes’ neues Buch, „Ossi Forever, ein Roman aus der brandenburgischen Provinz“, wird im Juni erscheinen.

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