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Meinung: MY BERLIN Schwabbelsozis im Jahnstadion

Was ist der Unterschied zwischen 1999 und 2003? Die einfache Antwort: Meine schwarzen Jeans passen nicht mehr.

Was ist der Unterschied zwischen 1999 und 2003? Die einfache Antwort: Meine schwarzen Jeans passen nicht mehr. Ich bekleckere mein Jacket beim Mittagessen. Ich nicke ein und schnarche bei Bundestagsdebatten. Manche meiner blonden Haare werden grau in einer Art, die Udo den Stoiber-Look nennt (danke, Udo).

Kurz gesagt: die typischen Anzeichen körperlichen Verfalls. Der einzige Trost: Die politische Klasse verfällt sogar noch schneller als mein Körper. Waren es wirklich nur vier Jahre?

Vor vier Jahren regierte die Linke Europa und hatte einen Freund in Washington. In dieser Woche waren die einzigen linken Führer bei der Geburtstagsparty für 140 Jahre SPD: Tony Blair (grauer als 1999), Göran Persson (glatzköpfiger und fetter), Schröder (dunkleres Haar als 1999) und eine Ansammlung osteuropäischer Ex-Kommunisten, die sich nun Sozialdemokraten nennen, weil es offenbar kein Copyright auf den Namen gibt. Niemand sprach über den Dritten Weg, der vor vier Jahren die Zauberformel aller linken Modernisierer war. Dessen Prinzipien waren eingegraben in dem weitgehend und zu Recht ungelesenen Schröder-Blair-Papier von 1999, das die britischen und deutschen politischen Klassen zusammenbrachte. Von uns wurde erwartet, die Achse der europäischen Reform zu sein. Erinnern sie sich? Natürlich nicht. Im Jahr 2003 ist Blairs Geschenk an Schröder weniger spektakulär. Eine Mannschaft britischer Politiker kam diese Woche nach Berlin, um gegen eine Bundestagself zu spielen – im alten Dynamo-Stadion von Erich Mielke.

Ich gehöre nicht zu den Berichterstattern, die Fußball für eine universelle Metapher halten. Aber das Match sorgte für einige nützliche Lektionen. Zuerst: Die britische Mannschaft bestand fast nur aus Labour-Abgeordneten und proeuropäischen Blair-Anhängern. Warum? Weil man es sich nur mit einer großen absoluten Mehrheit erlauben kann, dass ein Dutzend Abgeordnete verschwinden. Schröder hat diesen Luxus nicht. Labour hat sich in Großbritannien als die permanente Regierungspartei eingerichtet. Als die Männer auf dem Fußballfeld das erste Mal ins Parlament gewählt wurden, waren sie junge Hoffnungsträger, die bereit waren für die Blair-Revolution. Nun haben sie Bäuche, die wie Quallen herumwabbeln. Ich habe selten so viel rosafarbenes demokratisches Fleisch gesehen.

Im Jahnstadion wurde ich Zeuge der Alterung einer Idee. Kein Wunder, dass der deutsche Kapitän Norbert Lammert (CDU) vor dem Match so siegesgewiss aussah. Dank des Listensystems hierzulande war die deutsche Mannschaft zehn Jahre jünger, Fischer war nicht dabei, und das Team war in den Händen einer großen Koalition. Es sah unschlagbar aus.

Lammert war ein Vorbild an Effizienz und wird sicher eine Zukunft in einer Schröder-Merkel-Koalition haben. Er war 13 Minuten auf dem Feld, schoss ein Tor, gab sieben Fernsehinterviews und verschwand. Auch britische Spieler schlichen sich zuweilen vom Feld, aber nur, um schnell eine Zigarette zu rauchen. Aber die Geschichte hat auch eine Moral. Das britische Team gewann 3:2. Wie die Labourpartei als ganzes war die Mannschaft mittleren Alters und ohne Talent. Warum haben sie dann gewonnen? Anders gefragt: Warum ist Blairs Sozialdemokratie erfolgreicher als Schröders? Liegt das Problem in der Persönlichkeit der Parteiführer – oder der Unfähigkeit der Partei, sich schnell an Veränderungen anzupassen? Wer ist Schuld am deutschen Stillstand – eine schwache Regierung oder Strukturdefizite, die eine starke Regierung unmöglich machen?

Ich hoffe, diese Frage in meiner nächsten Kolumne beantworten zu können, nachdem ich deutsche und britische Abgeordnete in einem Tischtennisturnier habe spielen sehen.

Der Autor ist Korrespondent der britischen Tageszeitung „The Times“. Foto: privat

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