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Meinung: MY BERLIN So eine Schxxßx!

Das erste Mal, dass ich bewusst ein Schimpfwort gehört und verstanden habe, war am Neujahrsabend 1961, dem letzten vor dem Mauerbau. Ich durfte länger aufbleiben, meine Eltern und ich waren in einer Pension irgendwo in den Bergen, ich glaube, in Österreich.

Das erste Mal, dass ich bewusst ein Schimpfwort gehört und verstanden habe, war am Neujahrsabend 1961, dem letzten vor dem Mauerbau. Ich durfte länger aufbleiben, meine Eltern und ich waren in einer Pension irgendwo in den Bergen, ich glaube, in Österreich. Mein Vater tanzt mit der Wirtin und man kann sehen, dass es ihm Spaß macht. Meine Mutter haut ihm eine runter und nennt ihn einen „Hurensohn“.

Seitdem habe ich „Hurensohn“ als meine schlimmste Beschimpfung reserviert, auch wenn das Wort seine soziale Schärfe verloren hat. Schimpfworte sind eine Währung, die durchgehend unter Wert verkauft wird. Berlin ist voll von ihnen. Ein Kind kommt aus dem Kindergarten nach Hause und sagt zu seiner Mutter: Verpiss dich! Michael Steiner ist aus dem Kanzleramt geflogen, weil er einen Soldaten als „Arschloch“ beschimpft hat. Heute sagt man ja Axxxxloch. Ich habe diese merkwürdigen Auslassungen nie verstanden. Die Vokale rauszulassen wäre viel eleganter. Xrschlxch. So oder so, weder Steiner noch das Kindergartenkind waren sich so richtig der Kraft ihrer Worte bewusst.

Als ich neulich im 119er Bus Zeuge eines Schimpfwort-Schwalls wurde (der deutsche Fluch bewegt sich weg vom Analen, hin zum sexuellen – ein weiteres Anzeichen für die Anglo-Saxonisierung der Berliner Republik), entschied ich mich, mehr auf meinen Wortschatz zu achten. Wenigstens für einen Tag. Ich schummelte ein wenig und vermied den Kontakt mit der Deutschen Bundesbahn – stets eine Rutschbahn in die Depression – , mit ärztlichen Wartezimmern, mit Schulhöfen und mit Friedrichshain.

Mein erster Termin war bei einer Zeitung, ausnahmsweise nicht die in der Potsdamer Straße (nein, nein, Netzbeschmutzung wird es in dieser Kolumne nicht geben). Ich sollte einen Artikel abliefern und an der Redaktionskonferenz teilnehmen. Ich war auf eine Flut von harten, dreckigen Worten eingestellt, wie in Ben Hechts „Sein Mädchen für besondere Fälle“, oder wie in meiner eigenen Redaktion. Statt dessen ein Diskurs unter Gentlemen. Ich hätte in einem Roman von Jane Austen sein können. Eines neues Wort lernte ich dann doch: „Affenarsch“. Das kam nicht von einem altgestrigen, frauenfeindlichen Zeitungsmann, sondern von einer Frau Mitte 30, Teil jener reizbaren, intelligenten Generation, die heute heimlich die deutschen Zeitungen beherrscht.

Erste Lehre fürs Sauber-Sprech: die Golfistas vermeiden, jenen weiblichen Teil der Generation Golf.

Weiter ging’s mit einem Mittagessen, mit einem englischen Schriftsteller. Ein echter Test: Wir waren zusammen an der Uni, dem Brutkasten für alle ernsthaften Flucher. Männerfreundschaften – fragt jeden Anthropologen oder besucht jede Armeekaserne! – entstehen durch den gemeinsamen Gebrauch von vulgärem Vokabular. Es hätte aber schlimmer kommen können: wenn mein Freund Ire gewesen wäre. James Joyce hat einige der großartigsten Schimpfworte erfunden. Ich beiß’ mir also auf die Lippen. „Bist du krank“, fragt er.

Zweite Lehre: männliche Intellektuelle vermeiden.

Der Taxifahrer, der mich nach Hause fährt, ist syrischer Kurde und ich verstehe glücklicherweise den größten Teil seiner Schimpftirade nicht, als ein Fahrradfahrer vor ihm die Straße kreuzt. Fahrradfahrer in Berlin sind die Hauptverursacher von anstößiger Sprache. Es muss an den Abgasen liegen, der Gefahr, ihrer ökologischen Selbstgerechtigkeit. Wieder hätte es schlimmer kommen können: In New York hätte der Radfahrer möglicherweise eine Waffe gezogen. „Was haben Sie zu ihm gesagt?“, fragte ich den Kurden, ohne wirkliches Interesse an der Antwort. „Ich habe sein Weltbild zurechtgerückt.“

Zu Hause strahlt MTV nützliche Liedtexte aus: Warum man Ehemänner und Drogenhändler erschießen muss, bevor man mit ihren Frauen schläft. Die Sprache, die dort gebraucht wird, ist ein wenig plastischer. Ich stelle den Fernseher ab und gratuliere mir: Sprache bestimmt wirklich das Bewusstsein, wer seine Sätze säubert, fühlt sich leichter und wacher.

Ein letzter E-Mail-Check. Das Internet geht nicht. Oh, Scheiße. Oh, Sxxxxxx. Schxxßx.

Dritte Lehre: früh ins Bett gehen.

Der Autor ist Korrespondent der britischen Tageszeitung „The Times“. Foto: privat

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