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Meinung: MY BERLIN Talk and the city

Die Berliner hatten immer einen etwas engen Begriff vom Ausland. Als ich neulich auf dem stillen Örtchen die „Morgenpost“ las, fand ich eine interessante Ferienwohnung, von privat, Fränkische Schweiz – unter der Rubrik „Weiteres Ausland“.

Die Berliner hatten immer einen etwas engen Begriff vom Ausland. Als ich neulich auf dem stillen Örtchen die „Morgenpost“ las, fand ich eine interessante Ferienwohnung, von privat, Fränkische Schweiz – unter der Rubrik „Weiteres Ausland“. Tja, Bayern war hier immer weit weg.

Und nun tritt das östliche Ausland in wenigen Tagen auf unsere Türschwelle. In meiner Straße wird sich nicht viel ändern. Die Polinnen und Ukrainerinnen, die sich um meine alten, reichen, merkwürdig vernachlässigten Nachbarn kümmern, werden weiter vergnügt zur Arbeit kommen. Die Kombination aus unzureichender Alterspflege in Deutschland und abschreckenden Hungerlöhnen am Dnjepr zwingen zum Wirtschaftsaustausch.

Wir werden anderswo nach dem wahren Sinn der Ost-Erweiterung suchen müssen. Versuchen wir es mal mit der S 7 von Grunewald nach Lichtenberg, in 45 Minuten vom Wohlstand zur Armut. Man betritt eine andere Zeitzone und fühlt die gesunde Gemächlichkeit des Lebens. Eine dunkelbrünette Frau mit schwarzen Augen wartet auf den Zug nach Kaliningrad und küsst zum Abschied einen sandblonden Mann im mittleren Alter – sie mit kullernden Tränen, er gebrochen wie krümelndes Brot.

Der Deutsche-Bahn-Mann mit der roten Schirmmütze sagt, so gehe das jede Woche. Die Frau macht sich auf die 15-Stunden-Reise nach Kaliningrad und ein paar Tage später 15 Stunden zurück. „Schließlich“, sagt er, „muss man da hingehen, wo’s wehtut.“

Die Züge aus dem Osten kommen und fahren, verwandeln Lichtenberg in einen Basar. Nach Alma Ata, Kasachstan, dauert die Reise drei Tage und drei Nächte, sieben Mal umsteigen. Per Express zweieinhalb Tage, vier Mal umsteigen. Aber warum sich beeilen? Vielleicht könnte das die Zeitzone für uns sein. Als ich neulich nach Weißrussland reiste, tippte die Hälfte der Passagiere SMS in die Handys, die anderen starrten aus dem Fenster. Nach einigen Stunden waren die Akkus der Handys leer, und die Menschen begannen miteinander zu reden. Nichts großes Philosophisches, kein Nietzsche, aber plötzlich kam Wärme im Abteil auf.

Der Italiener Carlo Petrini hat vor einigen Jahren die Slow-Food-Bewegung begründet, der Frittieröl-Duft von McDonalds an der Spanischen Treppe hatte ihn dazu gebracht. Jetzt startet er einen Slow-City-Wettbewerb, „Cittaslow“. Ich wünsche mir, dass Berlin den Preis gewinnt. Diese Stadt sollte die hoffnungslosen Anstrengungen begraben, wie New York zu sein, wie London oder eine andere Weltstadt mit hohem Tempo. Berlin sollte sich dem Rhythmus von Mitteleuropa ergeben – zu dem es schließlich gehört.

Wir wissen doch alle: Am schönsten ist Berlin an den schläfrigen Sommertagen. Selbst als Berlin Anfang des 20. Jahrhunderts in halsbrecherischem Tempo expandierte, blieb immer Zeit für eine Reflexion im Café. Die großen Chronisten jener Zeit, voran Alfred Kerr, beschreiben eine Stadt, die voller Gespräche und Witz ist – eine Stadt, die nicht von einem globalen Zeitgeist getrieben war. Was ist mit dieser Stadt geschehen, mit ihren Gesprächen? Ich vermisse sie – und will sie wiederhaben.

Der Autor ist Korrespondent der britischen Tageszeitung „The Times“. Foto: privat

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