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Meinung: MY BERLIN Wer nicht fragt, bleibt dumm

Kritische Leserbriefe bekomme ich immer gern. Es gibt einem ein prickelndes Gefühl, zu wissen, dass man die Fähigkeit besitzt, Leute zu verärgern.

Kritische Leserbriefe bekomme ich immer gern. Es gibt einem ein prickelndes Gefühl, zu wissen, dass man die Fähigkeit besitzt, Leute zu verärgern. Die Briefe und ausgedruckten E-mails werden auf drei Stapel verteilt: extrem, verrückt und berechtigt. Nach etwa zwei Wochen wandern die Briefe von der linken auf die rechte Seite des Schreibtisches, und nach drei Wochen gebe ich sie Lola, der neunjährigen Tochter eines Freundes. Die benutzt sie, um den Boden ihres Kanarienvogelkäfigs auszulegen. Was danach damit passiert, weiß ich nicht.

Im „Berechtigt“-Stapel fand sich letzte Woche der Protestbrief eines Lesers aus München (falsche Stadt, Herr I.!). Er beschwerte sich darüber, dass Herr Boyes jeden Satz offenbar nur mit „Berlin wird…“, „Berlin soll…“, „Berlin muss… “ anfangen könne. Er ist eigentlich der Meinung – aber zu höflich, es auszusprechen –, dass ich nach Hause gehen sollte. Darauf würde ich antworten: Ich habe gerade die Benachrichtigung des Landeswahlleiters erhalten, der mich auffordert, hier in Berlin zu wählen, bei der Europawahl am 13. Juni.

Säckeweise Hasspost

Nicht nur Berliner, auch Ausländer haben das Recht sich über die Stadt aufzuregen. Zu Zeiten von Werner Höfers „Frühschoppen“ war das unumstritten; der Westdeutsche, so schien es damals, gierte nach konstruktiver Kritik von Ausländern. Heute bringen einem ein paar zugespitzte Bemerkungen im „Presseclub“ säckeweise Hasspost ein. Ist das Ausdruck eines gesunden Selbstbewusstseins – oder einer neuen Intoleranz? Ich bin mir nicht sicher.

Unbestritten ist jedoch, dass die Ausländer bei der Aufgabe, den Deutschen ihr Land zu erklären, eine immer größere Rolle spielen. 30 Jahre nach dem Rücktritt von Willy Brandt bedurfte es eines englischen Dramatikers, Michael Frayn, damit die Debatte um diese emotional so aufgeladene Ära in Gang kommt. Es war merkwürdig, Egon Bahr und Horst Ehmke neben dem britischen Botschafter bei der Premiere von Frayns Stück am Donnerstag sitzen zu sehen.

Merkwürdig, aber passend: Es ist zur gesamteuropäischen Aufgabe geworden, die Entzauberung starker politischer Führer nachzuvollziehen. Frayns Stück „Demokratie“ fängt die übersprudelnde Erregung des Brandt-Sieges ein, den neuen Politstil, und das bange Gefühl ihrer Vergänglichkeit: Das politische System ist dazu da, Charisma unter sich zu begraben.

Was Brandt passiert ist, geschieht in etwas anderer Form gerade mit Tony Blair. Und was Rot-Grün angeht – erinnert sich noch jemand an die Aufbruchsstimmung von 1998, jenes Echo von Willy? Warum wirkt diese Regierung plötzlich so alt, so ausgelaugt? Warum löst sich Vertrauen einfach auf? Der Horst Ehmke in Frayns Stück sagt: Der Fehler ist es, zu gewinnen.

Das sind wirklich interessante Fragen über den Kern von Politik. Sollten sich nicht die Deutschen selbst diese Fragen stellen? (Herr I. möge es entschuldigen.)

Der Autor ist Korrespondent der britischen Tageszeitung „The Times“. Foto: privat

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