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Nach Atomkatastrophe: Atomindustrie geht zur Tagesordnung über

Nach Fukushima: Die Atomindustrie geht zur Tagesordnung über

Yukiya Amano, Chef der Internationalen Atomenergiebehörde IAEO, nimmt das Krisenmanagement jetzt selbst in die Hand. Am Montag besuchte er erstmals das havarierte AKW Fukushima Daiichi. Gestern traf er Regierungschef Naoto Kan, auch den Rest der Woche will er in Japan verbringen. Die Krise, die Amano umtreibt, ist jedoch keine nukleare, sondern eine politische: In ihrem Fukushima-Bericht hat die IAEO der japanischen Regierung schwere Fehler vorgeworfen. Die Sicherheitsstandards hätten nicht den Empfehlungen entsprochen. Zudem habe Japan nicht, wie in den Regularien vorgesehen, sofort nach dem Unglück die Zusammenarbeit mit den Fachleuten der IAEO ermöglicht. Bei einer Sonderkonferenz am 20. Juni in Wien forderte Amano, die Sicherheitsempfehlungen der IAEO müssten verbindlich gemacht und auch kontrolliert werden: „Business as usual ist keine Option.“

Der Vorschlag kam jedoch gar nicht gut an. Insbesondere Japan, die USA und Großbritannien lehnen internationale Regeln kategorisch ab. Jetzt ist Amano in seinem Heimatland unterwegs, um die Wogen zu glätten: „Die Arbeiten verlaufen reibungslos“, sagt er der Presse, eine vollständige Abschaltung der Reaktoren bis Januar sei „realistisch“.

Tatsächlich macht die Bewältigung der Havarie in Fukushima Fortschritte. An allen drei Unglücksreaktoren wurden Kühlsysteme installiert, die Temperaturen sinken kontinuierlich. Eine gigantische Dekontaminationsanlage entfernt die Radioaktivität aus dem Kühlwasser, so dass kaum noch radioaktive Stoffe ins Meer gelangen. Die äußeren Schutzhüllen (Containments) der Reaktoren wurden mit Stickstoff befüllt, um weitere Wasserstoffexplosionen zu vermeiden. Die Radioaktivitätswerte auf dem Akw-Gelände und auch in den Kraftwerksgebäuden sinken stetig. Sicherheitshalber soll die Anlage durch tief in die Erde eingelassene Betonwände vom Grundwasser isoliert werden. Die Hoffnung der Betreiber, in einem halben Jahr die „Kaltabschaltung“ zu erreichen, also eine stabile Kühlwassertemperatur unter 100 Grad, ist durchaus realistisch. In fünf bis zehn Jahren, wenn die Radioaktivität der Spaltprodukte genügend abgeklungen ist, kann dann mit der Demontage der Reaktoren begonnen werden.

Die Atomlobby zitiert Fukushima neuerdings sogar als Beleg für die Sicherheit der Kernenergie. Schließlich sei es trotz Megabeben und Tsunami nicht zum Durchbruch der Kernschmelze gekommen. Und immerhin kam in Japan kein einziger Mensch durch die Radioaktivität zu Tode, während 16 000 Opfer des Erdbebens und des Tsunamis wurden. Am Sonntag gaben die Behörden im Katastrophengebiet nördlich von Fukushima sogar den ersten Badestrand wieder frei.

Die Nuclear Regulatory Commission (NRC), also die amerikanische Atomaufsichtsbehörde, erstellte eine Liste von Nachrüstungen, die aufgrund der Erfahrungen von Fukushima für amerikanische AKWs empfohlen werden. Doch auf Druck der republikanischen Mehrheit im Repräsentantenhaus verschwand das Projekt am Montag wieder in der Schublade. Ob die technischen Mängel in Fukushima, etwa bei den Druckablassventilen oder den Systemen zur Vermeidung von Wasserstoffexplosionen, auf US-Reaktoren übertragbar sind, soll jetzt erst einmal geprüft werden. Auf jeden Fall, so die Meinung des im Kongress zuständigen Energieausschusses, werden die 104 amerikanischen Atomkraftwerke durch die Lehren aus Fukushima noch sicherer werden.

Die wichtigste Lehre aus Fukushima allerdings ist, dass die Freisetzung großer Mengen Radioaktivität als realistisches Unfallszenario immer eingeplant werden muss. Konsequenterweise dürften Reaktoren deshalb überhaupt nicht mehr eng nebeneinander stehen, weil bei der Havarie eines Reaktors auch die Sicherheit des Nachbarn gefährdet ist. Auch müssten Atomreaktoren viele Kilometer entfernt von offenen Gewässern und größeren Städten errichtet werden, damit im Ernstfall die Bevölkerung vor der Radioaktivität geschützt werden kann. Doch angesichts leerer Kassen und wachsenden Energiehungers werden sich die meisten Staaten so viel Sicherheit nicht leisten wollen. „Business as usual“ ist eben viel billiger.

Der Autor ist Mikrobiologe und Direktor des Instituts für Biologische Sicherheitsforschung in Halle.

Foto: J. Peyer

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