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Meinung: Nach dem Denkzettel die Denkpause

Was Deutsche und was Polen aus dem Scheitern der EU-Verfassung lernen sollten / Von Adam Krzeminski

Ein Gespenst geht um in Europa, der Katzenjammer nach dem gescheiterten Verfassungsgipfel. Für die einen sind Polen und – etwas weniger – Spanien die Hauptschuldigen. Für die anderen Deutschland, das wieder einmal nationaler denke und handele („deutscher Weg“, „deutsche Interessen“, „deutsche Leiden“), sowie Frankreich, das mit Zähnen und Klauen seine überprivilegierte Position in der EU verteidige, die sich weder durch seine historische Leistung im 20. Jahrhundert noch durch seine Wirtschaftskraft rechtfertigen lasse.

Auf der einen Seite hieß es, die gernegroßen Polen hätten die EU mit ihrer Arroganz der Schwäche und der Tumbheit ihrer politischen Tradition gelähmt. Es geschehe ihnen ganz recht, wenn sie nun von „Kerneuropa“ abgehängt werden, schließlich besetzten Tschechen und Ungarn mit Handkuss die Rolle der Planeten um die rheinische Sonne.

Auch die andere Seite fuhr schwere Geschütze auf. Die von der Geschichte privilegierten „Kerneuropäer“ wollten eine feudale Grundstruktur bewahren. Sie entmündigten die armen EU-Neulinge als tolpatschige Vasallen, die für die – immer sparsamer abfallenden – Brosamen katzbuckeln und ansonsten ihr Maul halten sollten. Es sei unerträglich, dass sie sich beim Stabilitätspakt nicht an die Abmachungen hielten und nun arrogant mitten im Fluss die Pferde wechseln wollten: die in Nizza festgelegten Konditionen, die für uns Polen die Grundlage des Referendums über den Beitritt waren. Da bleibe nichts anderes übrig, als sich stur zu stellen, bis die da merkten, dass sie sich einen anderen Ton angewöhnen müssen. Damit Europa kein deutsch-französisches Kondominium werde.

Was ist da passiert? Einen polnisch-französischen Krieg hat es in der Geschichte nie gegeben. Deutschland wurde in Polen noch vor kurzem als der beste Anwalt polnischer EU- Interessen gepriesen. Das französisch- deutsch-polnische „Weimarer Dreieck“ hielten Polens Politiker noch unlängst für das „Rückgrat Europas“. Waren das alles Floskeln? Zerstören die kleinen, aber konkreten Interessenkonflikte die epochale „deutsch- polnische Interessengemeinschaft“, die in den Neunzigerjahren den Abschied von den Schatten der Vergangenheit verhieß?

Nein. Aber die Überwindung der historischen und mentalen Ungleichzeitigkeit der alten und neuen Europäer braucht gerade jetzt Zeit. Wer heute die „Kerneuropa“-Idee vorantreibt, spaltet ganz bewusst den noch gar nicht geeinten Kontinent. Wer Europas Identität auf den Gegensatz zu Amerika gründen will und zugleich Russlands autoritären Charakter bagatellisiert, zeigt, dass er die historische Dimension der Osterweiterung der EU nicht begreift. Sie ist eine politische und moralische Konsequenz des Jahres 1989 in Ostmitteleuropa – und nicht des Jahres 1789 in Paris. Wer in „Kerneuropa“ seine eigenen nationalen Interessen betont und die Verminderung seiner EU-Lasten reklamiert, darf es den „Randeuropäern“ nicht verübeln, wenn sie – unerfahren und verunsichert durch die für sie nicht immer nachvollziehbaren Normen – ihre eigenen Interessen anmelden.

Und schließlich: Wer in Berlin oder Paris Alarm schlägt, angesichts der Strukturschwäche der UN, der Nato und der EU müssten die mächtigeren Staaten Europas wieder stärker auf ihre nationalen Interessen setzen, darf sich nicht wundern, wenn die kleineren verschreckt und abwehrend reagieren.

2003 war für die EU eine retardierende Phase, auch wenn viele das Jahr zur Geburtsstunde eines neuen Europas aus dem friedliebenden Geiste Kants proklamierten. Nach Unterzeichnung der Beitrittsakte in Thessaloniki kam es im Osten zu einem emphatischen Rückfall in das nationale Zeitalter – im Westen ebenfalls. Das alte und das neue Europa waren kaum fähig zur Empathie füreinander. Der Westen hat den Zugewinn im Osten noch immer nicht mental akzeptiert – und der Osten noch immer nicht seine Verantwortung für die Funktionsfähigkeit des Ganzen. Misstrauen, unterdrückte Komplexe und Egoismen kamen 2003 stärker zur Geltung als die Europa-Idee, die in der Präambel der Verfassung so farblos formuliert wurde.

In Brüssel haben sich die Europäer gegenseitig einen Denkzettel verpasst. Und eine Denkpause gewonnen. Ein Kompromiss ist notwendig und möglich, braucht aber Zeit und vor allem Gesprächsbereitschaft. Ein stures Veto und beschämende Parolen wie „Nizza oder der Tod“ sind ebenso deplatziert wie Behauptungen, der vorgelegte Entwurf sei das Nonplusultra der legislativen Kunst, weshalb er nicht zur Diskussion stehe.

In Polen hat ein Streit begonnen, wie weit und wie lange man die große Verweigerung durchhalten solle. Die Stimmen, die die harsche Verteidigung von Nizza für einen Fehler halten, werden stärker. In Deutschland, aber auch in Frankreich, hört man inzwischen öfter, man dürfe mit den Neuen vielleicht nicht so imperial umspringen wie geschehen.

Nicht nur die Polen wirkten in den letzten Wochen unversöhnlich, auch die Alt-Europäer taten so, als habe sich mit der Erweiterung für sie kaum etwas geändert. Das ist ein Irrtum. Am 1. Mai ändert sich für alle alles. Wir an den östlichen „Rändern“ müssen eine Mitverantwortung für das gesamte Projekt Europa tragen, und die „Kerneuropäer“ müssen die Zäsur in ihrer Sicht des Kontinents berücksichtigen. Im 19. Jahrhundert konnte man in Paris und Berlin Europa ganz ohne Polen denken und im 20. mit einem nicht souveränen Polen. Jetzt sitzen auch wir mit am Tisch, wollen mitreden, mitentscheiden und mitverantworten. Dies zu lernen, ist möglicherweise für die alten EU-Staaten eine größere Herausforderung als für die neuen.

Der Autor ist Deutschlandexperte der Zeitschrift „Polityka“. Foto: picture-alliance/dpa

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