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Nach dem Mord an Bhutto: Pakistan ist wie ein Sultanat

"Das Land ist ein Pulverfass", heißt es. Aber verstehen wir eigentlich, was dort wirklich vor sich geht? Pakistan ist ein Feudalstaat, keine Demokratie. Daran wird sich auch nach Benazir Bhuttos Tod nichts ändern.

Als am 27. Dezember 2007 Benazir Bhutto in Pakistan ermordet wird, verdrängt der Anschlag alle anderen Nachrichten. Ganz anders als 1951, bei der Ermordung des Premiers Liaquat Ali Khan am selben Ort, schockiert das Attentat heute auch die Menschen in Europa und Amerika. Die Welt ist zusammengerückt. Bilder von prügelnden Polizisten in Rawalpindi erscheinen gleichzeitig auf allen Kontinenten. Weil Pakistan eine Atommacht und die Bundeswehr am Hindukusch ist, sind wir besorgt. Wir fragen nach dem Sinn dieser Unruhen, und die fehlende Antwort hinterlässt den Eindruck unerklärlicher Gewalt. Tatsächlich ist die Lage nicht neu. Attentate haben mehrfach auch die anderen großen südasiatischen Staaten erschüttert, und die grundsätzliche Auseinandersetzung, die zwischen verantwortungslosen Politikern und autokratischen Militärs, lähmt Pakistan seit seiner Unabhängigkeit 1947.

Pakistan ist keine Demokratie in unserem Sinn und war niemals ein Rechtsstaat trotz aller Appelle für eine „Rückkehr zur Demokratie“. In Pakistan konkurrieren verschiedene Wertemuster, und Satzungen stehen neben Vorstellungen von religiöser Reinheit und Standesehre oder fürstlicher Willkür. Die Republik hat eine Verfassung, an der ständig gravierende Änderungen vorgenommen werden, denn die eigentlichen Regeln des politischen Alltags unterscheiden sich kaum von denen der Sultanate und Kaiserreiche aus den Jahrhunderten vor der britischen Herrschaft. Als Recht laufen Ansprüche der staatlichen Instanzen, der islamischem Traditionen und der ethnischen Ethik nebeneinander her, so dass jegliche Voraussehbarkeit abhanden kommt. Vor Ort, in den Distrikten einer Provinz dieses ländlichen Staates, zählen die Großgrundbesitzer, die sich heute auch in der Industrie engagieren und von Hause aus Klans oder Stämme gegen entsprechende Rivalen anführen. „Wettbewerb“ ist auch die wichtigste Kategorie für pakistanische „Männer von Ehre“, aber sie entspricht einer Rivalität ohne zivile Regeln.

Aus ihrer Mitte finden dann einige den Weg nach ganz oben, wie die Bhuttos, die Fürsten aus der südlichen Indusregion, oder die Chaudhrys, die Großbauern aus dem Norden, und die Sharifs, die Industriellen aus der Mitte des Fünfstromlandes Punjab, ebenso wie die paschtunischen Sherpaos aus der Grenzprovinz oder die Bugti-Fürsten aus Belutschistan. Der nationale Rahmen erlebt dabei wie der lokale anhaltende Feindschaften zwischen Familien, die von Klienten und Schlägertruppen verstärkt und von Überläufern oder verräterischen Vettern geschwächt werden. Gegen ihre Onkel übernimmt die 26-jährige Benazir 1979 das politische Erbe ihres Vaters Zulfikar Ali Bhutto und zerstreitet sich darüber mit ihren Brüdern. Bis zuletzt hat sie Ärger mit ihrer attraktiven gebildeten Nichte Fatima, heute 26 Jahre alt, die jetzt wohl gegen Benazirs Sohn die Nachfolge anstreben wird. Bei den Regierungen der Sharifs und der Chaudhrys ist jeweils ein Bruder Chef des Landes und der andere führt den Punjab, die dominierende Provinz von Pakistan. Als Hayat Khan Sherpao 1975 ermordet wird, rückt sein Bruder Aftab nach, der als Innenminister kürzlich nur knapp zwei Anschlägen entgeht, während Akbar Bugti, mehrfach Widerständler oder Mitglied der Regierung, im letzten Jahr weniger Glück hat. Seine Söhne rücken selbstverständlich nach. Diese Familien führen auch politische Parteien, um sie beim richtigen Anlass zugunsten von neuen Bündnissen zu verlassen oder umzutaufen. Sie agitieren bei Zeiten öffentlich für die Wiederherstellung der Demokratie oder auch – je nach Lage der Dinge – gegen die Agitatoren der Straße.

Die Existenz einer solchen nichtbürokratischen Ordnung wird von uns oft einfach nicht wahrgenommen. Unsere Politiker und Kommentatoren fordern lieber Demokratie und Menschenrechte oder zumindest Ruhe und Gesetzlichkeit. Wenn jeder in Pakistan weiß, dass Benazir Bhuttos Mann ihren Bruder und Rivalen Murtaza umbringen ließ, als sie 1996 an der Regierung war, ist das keine Nachricht, und wenn der danach demokratisch gewählte Premier Nawaz Sharif die obersten Gerichte des Landes kurzfristig auflöste, interessiert das hier niemand.

Natürlich ist die neuere Geschichte des Landes immer mit der Konfrontation der Großmächte verbunden. Weil Indien sich ziert, wird Pakistan in die amerikanischen Verträge zur „Eindämmung“ des Kommunismus aufgenommen, und mit dem russischen Einmarsch in Afghanistan 1978 avanciert der religiös-fanatische Diktator Zia zur Stütze der Freien Welt. Millionen afghanischer Flüchtlinge belasten die Wirtschaft und bereichern den Alltag mit Drogen und Feuerwaffen. Im Namen der Freiheit liefern die Vereinigten Staaten modernste Boden-Luft-Raketen an eben jene Islamisten, die sie heute bekämpfen. Erst nach Zias ungeklärtem Flugzeugabsturz 1988 wird in Pakistan wieder gewählt, so dass die Tochter des hingerichteten Bhutto, von der Armee geduldet, die Regierungsverantwortung übernehmen kann.

Ihr Gegenspieler Nawaz Sharif löst sie nach halbwegs fairen Wahlen zweimal in den 1990er Jahren ab. Benazir Bhutto, ungewöhnlich schön und gebildet, führt als konservative Studentin die Oxford Union, weil sie auch eine mitreißende Rednerin ist. Nach Jahrzehnten der staatlich gelenkten Medien bringt sie 1988 dem Land die Pressefreiheit und müht sich, zweifellos im Sinne der Bevölkerungsmehrheit, die grundsätzlich unfreundlichen Beziehungen zu Indien zu verbessern. Ihre pro-amerikanische Politik steht außer Zweifel, doch dasselbe gilt für Nawaz Sharif, der mit Indien fast einen Friedensvertrag aushandelt. Er kommt aus einfachsten Verhältnissen und ist weniger gebildet aber kaum weniger begabt. Seine rhetorischen Qualitäten weiß nur zu schätzen, wer ihn in einer der Landessprachen erlebt. Sharifs Aufstieg vom Schmied zum Industriemagnat und Regierungschef verdankt er dem Diktator Zia-ul-Haq, dem er jahrelang die unschönen aber lukrativen Geschäfte zum Machterhalt abnimmt.

Von inhaltlichen Unterschieden zwischen den beiden zutiefst verfeindeten politischen Lagern kann nicht wirklich die Rede sein, und beide, Bhutto und Sharif, sind für den Putsch von 1999 verantwortlich, weil sich beide bedenkenlos bereichert haben. Die enormen „Kredite“, die die verstaatlichten Banken an die politische Führung auszahlen müssen, werden niemals getilgt. Pakistan steht vor dem Bankrott, als Musharraf die Selbstbedienung der Demokraten beendet. Erst die Militärregierung saniert die Staatsfinanzen, und selbst seine schlimmsten Feinde werfen dem Präsidenten weder persönliche Bereicherung noch Nepotismus vor.

Die pakistanischen Parteien, die jetzt nach dem Willen westlicher Regierungen den General ablösen sollen, kommen alle ohne interne Wahlen aus. Sie konkurrieren, ohne dass eine überragt: Stärkste Kraft ist vielleicht die Volkspartei (PPP), die sich auf die einheimischen Bewohner im Sindh stützt und auf die im angrenzenden Süden des Punjab, der Provinz mit mehr als 60 Prozent der pakistanischen Bevölkerung. Anhänger sind gleichermaßen Großgrundbesitzer wie Hemdlose, und in der Nordwestgrenzprovinz meist Pächter oder Landarbeiter, die nicht zu den Paschtunen gerechnet werden. Im Zentralpunjab mit den Metropolen Lahore und Faisalabad sind proletarische wie bäuerliche Bewohner Anhänger von Nawaz Sharif und dessen Muslim League (N), aber im Norden der Provinz – den Heimatbezirken der meisten Soldaten – dominiert die von ihr abgespaltene Muslim League (Q). Die Chaudhrys aus der größten Bauernkaste des Landes leiten diese Partei des regierenden Generals. Auch in der Megametropole Karachi stützen Millionen der aus Indien zugewanderten Familien den Präsidenten, weil sie erbitterte Gegner der einheimischen Sindhi sind, die der Bhutto-Familie folgen, während die Paschtunen der Grenzprovinz seit 80 Jahren die Führer des Jusufzai-Stammes wählen und die Belutschen ihre jeweiligen Stammesfürsten, egal in welcher Partei die sich gerade engagieren.

Wer sind die religiösen Kräfte in der Politik? Heilige, die gleichzeitig Großgrundbesitzer und Stammesführer sind, lassen sich in allen Lagern finden, besonders aber als unabhängige Kandidaten, die bei knappen Mehrheiten den Ausschlag geben. Die islamischen Gelehrten, oder Ulema, haben sich, den theologischen Schulen entsprechend, im oft gespaltenen aber ebenso oft zeitweise zusammengeflickten Bündnis der Jamiat-e- Ulema-e-Pakistan (JUP) und der Jamiat Ulema-e-Islam (JUI) versammelt, um dort die Posten nach dem Muster der großen Parteien ohne Abstimmungen an Söhne, Töchter oder Ehefrauen der Führer zu vergeben, während die kleine straff geführte städtische Jamaat-e-Islami sich streng am Leistungsprinzip orientiert und von ihren Mitgliedern radikale Opfer verlangt. Sie steht al Qaida am nächsten. Weil der Mullah eines Dorfes zu den ärmlichen Bediensteten der Grundbesitzer gehört, werden die religiösen Parteien niemals in die Verantwortung gewählt und blieben bei unter fünf Prozent der Stimmen, bis die USA die muslimischen Glaubensbrüder in Afghanistan und dem Irak bombardierten.

Allen religiösen Parteien gemeinsam ist die hasserfüllte Ablehnung der amerikanischen Interventionen. Dieser lautstarke Widerstand hat zu kleinen Erfolgen bei den Wahlen für die Parlamente von Belutschistan und der Grenzprovinz geführt, aber die Popularität der dort amtierenden Mullahs sinkt rapide, und die tiefe Abneigung gegen die amerikanischen Eingriffe ist inzwischen in allen Parteien und Köpfen gleichermaßen verwurzelt, gerade auch in den „prowestlichen“. Präsident Musharraf, 1999 von Bill Clinton geächtet und 2001 von George W. Bush zum engen Alliierten ernannt, muss seine Einwilligung öffentlich rechtfertigen. Hätte er sich nur zur Mitarbeit bereit erklärt, wären US-Truppen gegen seinen Willen in die westlichen Provinzen Pakistans einmarschiert. Aber heute reicht diese Rechtfertigung nicht mehr, heute will man ihn stattdessen wegen dieser Allianz stürzen.

Mehr als 160 Millionen Pakistani lehnen die amerikanischen Kampagnen ab. Bei allen Kontroversen steht die Einheit der islamischen Welt und die grundsätzliche Solidarität gegenüber muslimischen Mitmenschen als Wert über allen Kontroversen. Die autokratisch gelenkten großen Stämme der Belutschen, die eher lokal geführten der Paschtunen oder die kastenähnlichen Statusgruppen im Sindh und im Punjab sehen genauso wenig wie die 15 Millionen Slumbewohner von Karachi die geringsten Gründe für einen Krieg gegen ihre Glaubensbrüder in Afghanistan. Für die praktische Politik impliziert dieser Konsens in allen Lagern Distanz gegenüber der Marionettenregierung in Kabul und allenfalls Halbherzigkeit bei den Kämpfen gegen Taliban im eigenen Lande, also etwa die in den Bergen von Süd-Waziristan. Selbst der kemalistische Präsident wird, falls man ihn im Amt lässt, seine Streitkräfte nicht mit größtem Nachdruck gegen die Landsleute an der Grenze einsetzen, und falls die Demokraten bei Wahlen an die Macht kommen, werden sie den Militärs keine solche Befehle erteilen. Je länger der amerikanische Krieg im Irak und in Afghanistan dauert, desto häufiger wird es „unabhängige“ Taliban überall in Pakistan geben, also lokale und ungesteuerte Terrorkommandos, die für das Heer der Armen im Land immer attraktiver werden.

Pakistan kann für die letzten fünf Jahre – die Jahre der militärischen Krise in der Grenzregion – insgesamt ein erstaunliches Wirtschaftswachstum nachweisen, das sogar einer beachtlichen städtischen Mittelschicht zugute kommt. Aber die Masse der Bevölkerung hat nicht von diesem Boom profitiert. Das Heer der Landlosen in den Dörfern und der Arbeitslosen in den Städten wird sich früher oder später unter islamischen Vorzeichen auflehnen, aber auch dann mit den Sonderinteressen und Rivalitäten der lokalen Klans rechnen müssen. Anders als die zentral gelenkte schiitische Geistlichkeit des Iran lassen sich die selbständigen Gemeinden der überwiegend sunnitischen Pakistani nicht autokratisch regieren. Deshalb würde auch eine, unwahrscheinliche, islamische Revolution nicht „Ruhe und Gesetzlichkeit“ bringen. Wie im Sultanat von Delhi vor 800 Jahren wird es in Pakistan weiterhin Militärherrscher und ihre ständigen Herausforderer geben, aber anders als damals ist die pakistanische Armee ein effizienter und in sich geschlossener Apparat.

Ein Kommentar von Georg Pfeffer

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