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Nach der Abstimmung: Suchet der Stadt Bestes

Fangen wir mit einigen unbequemen Wahrheiten an. Auch ein anderer Abstimmungstermin hätte an der Niederlage von Pro Reli nichts geändert. Selbst Nieselregen statt Sonnenschein hätte die Mehrheiten nicht gedreht. Es waren auch nicht die Staatsgelder in der Pro-Ethik-Werbung, die den Reli-Gegnern zum Durchbruch verhalfen.

Nein, wer statt der für einen Erfolg mindestens nötigen 611 422 Stimmen gerade einmal 346 119 Wähler für sich gewinnt und darüber hinaus auch noch eine Mehrheit der Abstimmenden gegen sich hat – der hat verloren, ohne Wenn und Aber.

Rund 900 000 Menschen zahlen in Berlin Kirchensteuer, fühlen sich also auf die eine oder andere Weise mit den beiden großen christlichen Konfessionen verbunden. Fast zwei Drittel von ihnen gingen nicht zur Abstimmung, wurden von der Kirche ungeachtet aller Appelle nicht erreicht. Oder waren diese Aufrufe vielleicht gar so drängend und fast schon befehlend, dass sich die Angesprochenen weniger gebeten als vielmehr agitiert fühlten? Zumindest nachdenken sollten die Verantwortlichen darüber, bevor sie eine solche Überlegung gleich entrüstet von sich weisen. Und akzeptieren muss die Amtskirche auch, dass ein Christ die geltende Lösung, den verpflichtenden Ethikunterricht und die fakultative Religionsstunde, als einer multiethnischen und multikulturellen Großstadt angemessen empfinden konnte. Wenn in Ostberliner Bezirken mit relativ vielen Kirchenmitgliedern die Wahlbeteiligung gering und der Pro-Ethik-Stimmenanteil verhältnismäßig hoch war, kann dies durchaus als Indiz dafür gelten, dass DDR-geprägten Christen bei allzu viel Staatsnähe ihrer Kirche nicht wohl ist.

Die Stadt ist gespalten. Ja, nur wusste man das schon vorher. Mit der parteipolitischen Trennlinie zwischen Ost und West hat das diesmal zwar auch wieder einmal, aber eben nicht dominierend zu tun. Obwohl der sozialdemokratische Präsident des Abgeordnetenhauses es nicht wahrhaben will: Hier ist keine CDU-Kampagne gescheitert, sondern die Selbstfixierung der Amtskirchen auf die Vorstellung, sie könnten die Lebenswirklichkeit der Stadt dominieren. Die Union erzielte bei der letzten Wahl zum Abgeordnetenhaus 294 026 Stimmen. Es hätte mithin, selbst eins zu eins auf den Sonntag übertragen, nicht zum Pro-Reli- Erfolg gereicht.

Der Trennungsstrich geht durch die Parteien, durch die Stadtteile, durch die Generationen, durch Ost und West. Die Kirchen müssen begreifen, dass sie nicht mehr in der Position sind, fordern zu können. Sie müssen werben – um Vertrauen in allererster Linie. Der Staat und die Stadt können ohne die Kirchen nicht existieren, sie wären ohne Kirchen nicht, was sie sind. Der sozialdemokratisch- katholisch geprägte frühere Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde stellte schon vor Jahrzehnten fest, dass der Staat von Voraussetzungen lebt, die er zwar nicht schaffen kann, aber garantieren muss. Dazu zählt Böckenförde die religiösen, ethischen und moralischen Einstellungen der Bürger.

Wer das ernst nimmt – und das sollten die Kirchen genauso tun wie die rot-rote Offizialpolitik –, muss für einen Ethikunterricht werben, in dem sich die kulturellen, geistesgeschichtlichen und zivilisatorischen Fundamente der Bürger wiederfinden. Das Ziel, dem sich das alles unterzuordnen hat, findet man bei dem alttestamentarischen Propheten Jeremia. Der lebte vor 2600 Jahren, ist damit über Parteienstreit erhaben. Von ihm stammt die Aufforderung: Suchet der Stadt Bestes.

Gerd Appenzeller

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