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Die Wilmersdorfer Witwen, wie aus dem legendären Stück "Linie 1" am Gripstheater, gibt es mittlerweile in ganz Europa, meint Wolfgang Prosinger.

© dpa

Nach der Europawahl: Wilmersdorfer Witwen überall

Der Erfolg rechtslastiger Parteien ist gar nicht so sehr ein Bekenntnis zu extremen Positionen, meint Wolfgang Prosinger, sondern eher Ausdruck eines tief sitzenden Unterlegenheitsgefühls.

Neulich in der Oper: Ein Barock-Stück, selten gespielt. Der Kritiker des Tagesspiegels hatte begeistert darüber geschrieben. Und das mit gutem Grund. Die Regie schuf zauberhafte Bilder, und sie war hauptsächlich deshalb äußerst intelligent, weil sie das gelegentliche Pathos des Stücks mit wunderschönen Ironien austrickste.

Natürlich muss das nicht jeder so sehen. Zwei ältere Damen zum Beispiel, die in der Pausenschlange vor der Theke standen, kleines Sektchen, fanden die Aufführung ganz anders. Sie fanden sie grässlich. Und weil wir in Berlin sind, begann nun ein Gespräch der etwas rustikaleren Art.

„So was Albernes“, sagte die eine.

„Albern? Es war peinlich“, sagte die andere.

„Peinlich? Es war furchtbar.“

„Eine Schande ist das, eine Schande.“

„Das war früher nicht so.“

„Warst du schon mal in der Oper?“

„Ja, schon zwei Mal.“

Die Unmutsbekundungen steigerten sich, Abscheu und Empörung wurden lauter, noch immer war die Sektbar nicht erreicht, da wandte sich das Gespräch schließlich einem ganz besonderen Erregungsgrund zu.

„Diese Sänger mit ihren Feinrippunterhosen, die man immer gesehen hat.“

„Nach der Pause gibt es bestimmt Nackte. Nacktheit!“

„Nacktheit!“

„Kopulation!“

Mit diesem Aufschrei war der Getränketresen erreicht, und es blieb den Damen gerade noch Zeit, sich über die anderen Zuschauer zu erzürnen, gut tausend werden es gewesen sein, deren begeistertes Klatschen ihnen verriet, dass sie hoffnungslos in der Minderheit waren. „Die Leute lassen sich eben gerne verarschen“, hieß der rohe Befund. Die Sorge der beiden Damen vor unziemlichen Entkleidungsszenen erwies sich im Weiteren übrigens als gänzlich unbegründet.

Staunenswert, dass ein solcher Dialog im Jahr 2014 stattfinden konnte. Man hätte ihn eigentlich in einer ganz anderen Zeit vermutet. In den achtziger Jahren nämlich, als das Berliner Grips-Theater das Stück „Linie 1“ auf die Bühne brachte und mit ihm Theaterfiguren, die zur Legende wurden: die berühmten „Wilmersdorfer Witwen“. Eine Verkörperung der erzkonservativen Sehnsucht nach dem Kleinkarierten. Das ist jetzt bald dreißig Jahre her, und man hätte denken können, dass es damit längst vorbei sei, eine satirische Reminiszenz, nichts weiter, von der Gegenwart schon lange überholt.

Es ist aber nicht so, die Wilmersdorfer Witwen scheinen lebendiger denn je zu sein, gerade erst haben sie eine neue Aktualität bekommen. Denn sie stehen ja nicht nur in Opernschlangen, sie erheben nicht nur ihre Stimme, sie geben sie auch ab. Wie erst kürzlich bei der Europawahl. Von England bis Frankreich bis zur „Alternative für Deutschland“ – der erschreckende Erfolg rechtslastiger Parteien ist vermutlich gar nicht so sehr ein Bekenntnis der Wähler zu extremen Positionen, sondern eher Ausdruck eines tief sitzenden Unterlegenheitsgefühls: dass die da oben machen, was sie wollen; dass die modernen Zeiten immer unverständlicher werden; dass die alten Identitäten verraten und verkauft werden; dass die Unbehaustheit im eigenen Haus im Wachsen begriffen ist; dass das Tempo gesellschaftlicher Veränderungen unaufhaltsam und unbezähmbar über einen hinwegbraust; dass erprobte Gewissheiten unter die Räder kommen. Und ersetzt werden durch eine ganz andere und immer bedrohlichere Gewissheit: Wir sind Opfer einer feindlichen Welt. Wir Wilmersdorfer Witwen. Und die sind beileibe nicht nur weiblich.

Ein Mischsatz aus Selbstgefälligkeit und Selbstmitleid, aus Hilflosigkeit und Aggression und Dünkel, der zum Sprengsatz werden kann. Denn er entzieht sich weitgehend politischen Kriterien. Kein Programm der herkömmlichen Parteien, das solche Befindlichkeiten auffangen, keine Rationalität, die ihrer Herr werden könnte. Und deshalb ein gefundenes Fressen für alle jene, die aus dieser privaten Not und Unzufriedenheit und Borniertheit politisches Kapital schlagen möchten.

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