zum Hauptinhalt

Nach Zuwanderungs-Votum in der Schweiz: Heidi ist nicht mehr hier

Die Sorgen des Durchschnittsschweizers sind die vieler Menschen in EU-Staaten, die sich vom Europa ohne Grenzen abzuwenden. Wenn Europa aber zum Anliegen der Eliten zu verkümmern droht, scheitert das Projekt

Manchmal ist die Wechselbeziehung zwischen Ursache und Wirkung so augenscheinlich, dass beide die Plätze tauschen – was eigentlich die Folge einer Entwicklung war, wird wiederum zum Anstoß eines neuerlichen Wandels. Die europäischen Reaktionen auf die per Volksabstimmung in der Schweiz beschlossene Begrenzung der Zuwanderung sind ein eindrückliches Beispiel dafür.

Die Initiative „Gegen Masseneinwanderung“, ausgelöst von der national-konservativen Schweizer Volkspartei, SVP, ist ein Reflex auf die vermeintliche oder tatsächlich gegebene Bedrohung des gewohnten Schweizer Alltags durch den massiven Zustrom aus den Ländern der Europäischen Union. Bei einem Ausländeranteil von 23 Prozent fühlen sich viele Schweizer fremd im eigenen Haus, die Mieten steigen, es gibt, gerade im Tessin, Lohndumping durch Zuwanderer. Betroffen sind natürlich nicht die wohlhabenden Eidgenossen in ihren geschlossenen Zirkeln, sondern die von Ausbildung und Herkunft weniger begünstigten. Sie wehren sich per Volksabstimmung dagegen, dass alles noch schlimmer wird.

Schweizer könnten sich durch Drohungen aus der EU bestätigt fühlen

Und was kommt aus der EU? Drohende Töne, wie vom Europa-Abgeordneten Andreas Schwab (Abkommen kündigen!), Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn (Freizügigkeit nicht verunstalten), Ralf Stegner, SPD (Die spinnen, die Schweizer!), um nur drei zu nennen. Und der Schweizer, der gegen Überfremdung stimmte? Der denkt vermutlich, die Drohungen bestätigten nur die Richtigkeit seiner Entscheidung.

Die Forderung, die mit der EU ausgehandelte Freizügigkeit innerhalb von drei Jahren zugunsten einer Kontingentierung von Arbeitnehmern, Studierenden und Asylbewerbern abzuschaffen, ist kurzsichtig. Ohne qualifizierte Zuwanderung kann die Schweiz die Infrastruktur eines der modernsten und effektivsten Staaten der Welt nicht aufrechterhalten. An den Universitäten, in den Krankenhäusern und großen Unternehmen vor allem der deutschsprachigen Schweiz wird mehr und mehr hochdeutsch gesprochen. Auch viele Italiener und Portugiesen ließen sich nieder. Hinzu kommen die Grenzgänger aus Deutschland, fast 100 000. Die Schweizer Wirtschaft lebt vom Export vor allem in die Europäische Union. Ihre Unternehmen sind in der EU und weltweit vernetzt. Die „Neue Zürcher Zeitung“ nennt die Führungselite des eigenen Landes „globale Nomaden“, die von den gesellschaftlichen Debatten der Durchschnittsbürger nicht berührt werden – und von ihren Problemen auch nicht, muss man hinzufügen.

Die Sorgen der Schweizer sind die gleichen wie die vieler anderer Menschen in EU-Staaten

An diesem Punkt sind die Sorgen des Durchschnittsschweizers aber die gleichen wie die vieler Menschen in EU-Staaten, die sich aus Angst vor Globalisierung, Migration und Abstieg vom Europa ohne Grenzen abzuwenden beginnen. Wenn jedoch Europa zum Anliegen der Eliten zu verkümmern droht, und die wiederum die Sorgen der einfachen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer als populistisch vom Tisch wischen, scheitert das Projekt Europa. Regierungen, die zur Rettung des Euro fast alles tun, den Mangel an bezahlbarem Wohnraum aber für etwas halten, was der Markt richten muss, verlieren die Menschen, ohne deren Vertrauen sie nichts sind.

Die Sorgen der Schweizer mögen noch einmal eine besonders kleinteilige Dimension haben. Es ist die Angst vor dem endgültigen Verlust einer Idylle, wie sie Johanna Spyri 1880 und 1881 in ihren beiden Heidi-Romanen so romantisch geschildert hat. Die SVP, die im Kern bildungs- und fortschrittsfeindlich ist, gaukelt ihren Anhängern vor, sie könne die Zeit zum Stillstand bringen. Wie man das Einst mit dem Jetzt vereint, zeigt hingegen der bayerische Werbeslogan von „Laptop und Lederhose“, der ja auch versucht, eine Symbiose von Märchen und Moderne herzustellen. Heidi ist eben nicht mehr beim Öhi auf der Alp, sondern lernt Fremdsprachen und ist kosmopolitisch.

Den Schweizern und ihrer Regierung bleiben nun drei Jahre Zeit, mit sich selbst ins Reine zu kommen und zu zeigen, wie man Politik sowohl weltoffen als auch sozial gestalten kann. Sich aus Europa lösen, das kann die Schweiz nicht.

Zur Startseite