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Meinung: Nächstes Jahr im Wendland

Der Protest gegen die Castoren ist schön – sentimental

Manche Dinge sind wirklich schwer zu begreifen. Wie beispielsweise sollte man einem weit gereisten Fremden das seltsame Indianerspiel erklären, das dieser Tage im Wendland wieder aufgeführt wird? Bei dem Mitglieder von Gruppe A auf Bäume steigen, sich an Gleise ketten und in Beton gießen lassen, um einen Zug aufzuhalten, der ohnehin sein Ziel erreicht, während Gruppe B alle Errungenschaften modernster Technik aufbietet, keine Kosten und Mühen scheut, um Gruppe A das Handwerk zu legen.

Verstehen lässt sich dieses seltsame Ritual wohl nicht ohne den Blick auf seine Anfänge. Der Widerstand gegen die gefährlichen Castoren und das Zwischenlager Gorleben war auch – und vor allem – Protest gegen das große Ganze: gegen eine Industrie, die die Atomkraft als Zukunftsenergie pries, gegen eine Politik, die im Jahrhunderte strahlenden Müll keine Gefahr erkennen wollte. Wackersdorf, Tschernobyl, Gorleben – die Orte sind Symbol geworden für die deutsche Anti-Atom-Bewegung, die ihre Visionen tatsächlich irgendwann in konkrete Politik münzte: den schrittweisen Atomausstieg.

Mittlerweile verteidigt das kleine Grüppchen aufrechter Castor–Gegner erbittert den alten Traum vom Wahren und Guten gegen die neue Zeit. Denn die Castor-Transporte sind so gefährlich wie unumgänglich: Die Rückführung der atomaren Altlasten ist fester Bestandteil des Ausstiegs aus der Kernenergie. Die immer weniger werdenden Widerständler kämpfen auch deshalb gegen immer längere Züge, weil der grüne Umweltminister Trittin sich anfangs sozusagen Wendland-schlau aber nicht politisch klug verhielt: Er setze die Transporte von und zur Wiederaufarbeitungsanlage in La Hague einfach aus und hoffte, den schnellen Atomausstieg zu erzwingen, indem er die Kernkraftwerksbetreiber auf ihrem Müll sitzen ließ. Die Realität internationaler Verträge holte den Umweltminister damals schnell wieder ein – die Züge rollen jetzt umso häufiger.

Dass die Castor-Transporte überhaupt rollen, ist auch der deutschen Anti-Atom-Bewegung zu verdanken. Denn nur weil der Widerstand gegen regionale Zwischenlager in Deutschland so groß war, wurde die aufwändige, kostenintensive und gefährliche Wiederaufarbeitung des Atommülls im Ausland attraktiv. Bis 2005 werden die Castoren noch rollen, dann endet die Frist für die Wiederaufarbeitung. Bis dahin müssen die Kraftwerksbetreiber standortnahe Zwischenlager eingerichtet haben, denn der Atommüll bleibt ja erhalten. Da winken jede Menge neue Schauplätze und Variationen des seltsamen Indianerspiels. Weil die Symbolkraft fürs Große und Ganze nicht mehr besteht, konzentriert sich der Widerstand aufs Regionale: er richtet sich gegen die dezentralen Zwischenlager, gegen Pläne, in Gorleben ein atomares Endlager einzurichten. Das ähnelt den Protesten gegen Ortsumgehungsstraßen, Müllkippen und Asylbewerberheimen, nach dem Sankt-Florian-Prinzip:“…verschon mein Haus…“. Nur ist der atomare Müll kein lokales Problem, er strahlt über Dorf-, Kreis - und Landesgrenzen hinaus.

Umweltminister Trittin, der den Romantizismus der Anti-Atom-Bewegung inzwischen abgeschüttelt hat, beharrt auf einem Endlager in Deutschland, schon deshalb, weil eine Lagerung des atomaren Mülls zu deutschen Sicherheitsvorschriften allemal ungefährlicher ist, als in östlichen Nachbarländern. Ein Quäntchen dieses Realitätssinns könnte den Wendland-Kämpfern nicht schaden. Ob es ein Endlager in Gorleben geben wird, sollte nicht davon abhängen, wo das Indianergeheul am geringsten, sondern wo die Sicherheit am größten ist – oder?

Simone von Stosch

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