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Meinung: Neue Herren, alte Welt

Präsident Aristide wollte Haiti von seiner blutigen Geschichte erlösen – doch die Insel ist wieder da, wo sie herkam: im Bürgerkrieg

Er galt als Haitis Retter, als Wegbereiter einer neuen demokratischen Zeit nach Jahrzehnten blutiger Diktatur der Dynastie Duvalier: der linke Armenpriester Jean-Bertrand Aristide. Auf ihn richteten sich nach dem Volksaufstand 1985 die Hoffnungen, 1990 wurde der Bannerträger der karibischen Theologie der Befreiung zum Präsidenten gewählt. Und das Ausland schaute auch nicht schulterzuckend weg, als das Militär gegen ihn putschte, im Interesse der Vermögenden. Die USA intervenierten, um Aristide wieder einzusetzen und das demokratische Modell zu retten. Ein Happy End, so schien es. Danach wurde Haiti aus dem internationalen Programm wieder ausgeblendet.

Bis jetzt neue Schreckensbilder von der ehemaligen Sklaven- und Zuckerrohrplantageninsel Hispaniola Aufmerksamkeit erzwingen. Als habe sich Haitis politische Kultur in den zwei Jahrzehnten seit 1985 kaum entwickelt, ziehen Todesschwadronen des Machthabers umher und ermorden bestialisch, wen sie für einen Regimegegner halten. Die Banden heißen nicht mehr „Tontons Macoutes“, wie unter „Papa Doc“ und „Baby Doc“ Duvalier, sondern „Chimères“. Ansonsten hat sich wenig geändert.

Warum ist der bejubelte Aufbruch zur Freiheit gescheitert: Waren die Verhältnisse, Haitis traditionelle Armut und Brutalität, stärker als der Hoffnungsträger? Hat „die Welt“ die nötige Aufmerksamkeit und Unterstützung verweigert? Ja, auch diese Faktoren spielen eine Rolle, und keine unwichtige.

Doch Haiti ist vor allem eine Parabel für die Grenzen menschlicher Wandlungsfähigkeit. Die Lichtgestalt, die sich als Bösewicht entpuppt – da ist Aristide kein Einzelfall, sondern nur ein besonders brutaler Extremfall. Das Phänomen ist nach revolutionären Aufbrüchen in eine bessere Zukunft sogar eher die Regel als die Ausnahme. Menschen fällt es schwer, sich von den Machtstrukturen, die ihre Biografie geprägt haben, zu lösen. Wer mit Repression aufgewachsen ist, orientiert sich, sobald er selbst unter Druck gerät, an diesem Muster – obwohl man doch das Gegenteil annehmen würde: dass die Erfahrung, selbst Opfer der Repression gewesen zu sein, Menschen von diesem Reflex heilt.

Zum Beispiel Ostmitteleuropa nach dem Sturz der kommunistischen Diktatur. Überall kamen zunächst liberalkonservative Intellektuelle oder Arbeiterführer an die Macht, die zuvor unter Zensur und gewaltsamer Unterdrückung der Demonstrationsfreiheit gelitten hatten. Als ihre eigenen – demokratischen – Regierungen dramatisch an Zustimmung verloren, weil die Hoffnungen auf Arbeit und Wohlstand nicht so rasch in Erfüllung gingen, fiel auch ihnen nichts anderes ein, als die Fernsehdirektoren auszuwechseln und einen Kulturkampf gegen kritische Zeitungen zu beginnen: in Ungarn, in Polen, in Tschechien. Es brauchte zwei, drei politische Pendelschläge, in denen reformbereite, von der neuen Zeit geprägte, linke und bürgerliche Regierungen sich abwechselten, bis die Demokratie die Oberhand über die Machtreflexe der Diktatur behielt.

Und Haiti? Aristide hat sich – bewusst oder nicht – an der Werteskala seiner Vorgänger orientiert, umgab sich beim Aufstieg vom Armenpriester zum Staatsoberhaupt mit den Insignien der Oberschicht: Reichtum, Villen und einer Frau, deren Haut heller ist als seine. Er kann sich nicht lösen von den Mustern, die sein Leben prägten.

Ganz Haiti wird das aus eigener Kraft kaum schaffen. Es gibt nicht einmal eine demokratische Vorgeschichte aus der Zeit vor der Diktatur wie in Ostmitteleuropa, nur die Tradition der Gewalt. Soll man sich also wünschen, was gemeinhin als kritikwürdig gilt: dass Amerika Kraft und Augenmaß findet, einer weniger blutigen Ordnung in seinem Hinterhof zum Durchbruch zu verhelfen, notfalls per Intervention? Sogar zwei, drei Mal, ohne dass die Wiederholung nur als Scheitern des vorigen Eingreifens wahrgenommen wird. Selbst in Europa hat die Demokratie nicht im ersten Anlauf gesiegt.

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