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Thilo Sarrazin und die Kreuzberger, eine komplexe Beziehung. Auf sein als Provokation empfundenes Gesprächsangebot wollten zahlreiche Kiez-Bewohner jedenfalls nicht eingehen.

© dpa

Neue Sarrazin-Debatte: Sie haben sein Buch nicht gelesen

Tagesspiegel-Chefredakteur Lorenz Maroldt meint: Statt Thilo Sarrazin anzupöbeln und aus ihrem Viertel zu jagen, sollten die Kreuzberger ihn einfach stehen lassen.

Respekt und Toleranz: Das sind die Begriffe, die sich weite Teile der Kreuzberger Mehrheitsgesellschaft wahrscheinlich auf den Unterarm tätowieren würden, wenn dort noch Platz wäre. In der Regel sind sie schwer damit beschäftigt, ihr Dorfleben zu organisieren, wozu es gehört, Antragsformulare auszufüllen, um Fördermittel für Projekte abzugreifen, vom „Bündnis für Demokratie und Toleranz“ oder dem Programm „Jugend für Vielfalt, Toleranz und Demokratie“, solche Sachen.

Das ist alles prima. Das Problem ist nur, dass sich diese Kreuzberger Mehrheitsgesellschaft hinter einem eingebildeten Minderheitsgefühl verschanzt und stets alarmiert einen asterixianischen Abwehrkampf gegen alle vermeintlichen und tatsächlichen Übel dieser Welt meint führen zu müssen, also gegen Amerikaner (wenn sie stolz sind), Hamburger (wenn sie gegrillt sind), Berliner (wenn sie Polizisten sind), Schwaben (wenn sie Geld haben), Restaurants (wenn sie Schwaben mit Geld bedienen), Rechte (Agenda-Sozialdemokraten), Ultrarechte (FDP, CDU), Nazis (Die Freiheit, Pro Deutschland), Sarrazinisten (Sarrazin), Privatschulen, Autos, Eigentumswohnungen, Touristen und einiges mehr.

Eine Minderheit dieser Mehrheit setzt beim Kampf auf den Einsatz von Grillanzündern, Pflastersteinen und Jauchekübeln. Das ist der Mehrheit nicht immer recht; die Rückeroberung des 1. Mai als Festtag ist ein großes Verdienst dieser Mehrheit. Aber hat man je davon gehört, dass sich irgend eines der vielen guten Projekte für die Rechte der tatsächlichen Minderheiten in Kreuzberg stark macht, und zwar lautstark? Oder es wenigstens missbilligt, wenn diese verletzt werden?

Das geht schon deswegen nicht, weil in Kreuzberg Grüne, SPD und Linke bestimmen, wie man was und wen zu sehen hat, und da ist das Feindbild klar. Ein „Sieg für die Demokratie“ ist es zum Beispiel, wenn unerwünschten Personen von Demonstranten der Zugang zum Rathaus verwehrt wird, sagt die SPD; eine „unerwünschte Person“ kann für die SPD in Kreuzberg ein Mitglied von Pro Deutschland sein, aber auch das SPD-Mitglied Thilo Sarrazin. Deswegen, sagt der Grünen-Abgeordnete Özcan Mutlu, sei es „ein Zeichen von politischer Reife“, wenn die Kreuzberger Sarrazin „kritisieren“, was hier bedeutet, ihn nicht nur aus einem Restaurant, sondern gleich aus dem Bezirk zu jagen, wie in der vergangenen Woche geschehen. Welch großer Sieg der Demokratie – aber was für ein kleingeistiges Verhalten.

Im tolerantesten Bezirk Berlins, dieser Enklave der Vielfalt, wird der eigentlich Andersartige stets als Aggressor wahrgenommen. Das war so, als der Kreuzberger CDU-Abgeordnete Kurt Wansner ausgerechnet am 1. Mai auf dem Oranienplatz gegen linke Gewalt demonstrieren wollte (und sie damit zu beweisen suchte); und das war so, als Thilo Sarrazin ausgerechnet mit jenen Obsthändlern diskutieren wollte, die er zuvor beleidigt hatte (um so ihre Ignoranz zu belegen: „Sie haben mein Buch nicht gelesen“). Die tolerante Kreuzberger Mehrheitsgesellschaft hätte ihn einfach auslachen und stehen lassen sollen.

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