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Meinung: Neues Unterrichtsfach „Innerer Abschied“

Für immer mehr Lehrer verliert ihr Beruf seinen Sinn Von P. Klaus Mertes SJ

Was derzeit an Erschöpfungssignalen von Lehrern und Lehrerinnen aus den Schulen zu hören ist, darf nicht unter „Lehrergejammer“ abgebucht werden. Vielmehr sind die Notrufe aus den Schulen sehr ernst zu nehmen. Denn für die Lehrer werden die Folgen der Sparzwänge jetzt deutlich spürbar: Erhöhung der Arbeitszeit, Streichung von Altersermäßigung und Altersteilzeit, verschärfte Arbeitszeitungerechtigkeit für die Korrekturfächer.

Das sind jedoch nicht die einzigen Belastungen. Vielmehr wird auf absehbare Zeit auch nicht mehr in Bereiche investiert werden können, die es dringend nötig hätten: Kleinere Lerngruppen, mehr Spielraum für Beratungstätigkeit, individuelle Förderung und Projektunterricht wird es so nicht geben.

Alarmierend ist, dass immer mehr Lehrer und Lehrerinnen sich – nicht nur in Berlin, sondern bundesweit – innerlich von ihrem Beruf verabschieden. Das hängt nicht nur an den äußeren Arbeitsbedingungen. Der Protestbrief der Lehrer am Reinickendorfer Humboldt-Gymnasium hat in der vergangene Woche etwas auf den Punkt gebracht, das für Insider schon seit einiger Zeit zu beobachten ist: Der Lehrberuf in Deutschland verliert an Attraktivität, weil er für die Beteiligten immer mehr seinen inneren Sinn verliert. Ein „innerer Abschied“ vom Lehrberuf findet statt. Das muss aufhorchen lassen. Lehrer sagen so etwas nicht leichten Herzens. Auf Zukunft hin gesprochen: Wer will denn eigentlich in Deutschland noch Lehrer oder Lehrerin werden, wenn sich Schule und damit auch der Lehrberuf so weiterentwickeln, wie sie es derzeit tun?

Ich rede hier nicht von einigen privilegierten „Treibhäusern des Lernens“, in denen einem staunenden Publikum die Schule von morgen vorexerziert wird. Ich rede von den normalen Schulen, die jetzt, in diesem Schuljahr die Umstrukturierungen und neuen Vorschriften vor Ort umsetzen müssen. Nicht alles, was von oben auf die Schulen hereinprasselt, ist unsinnig: Sprachstandmessung, frühere Schulpflicht, erste Fremdsprache ab 3. Klasse, Naturwissenschaften als neues Fach in den 5. Klassen, offene und andere Ganztagsschulen, mittlerer Schulabschluss, Schuljahresverkürzung, Zentralabitur, Förderpläne, Evaluation, Schulprogramm, Neuausrichtung der Rahmenlehrpläne – alles gute Ideen.

Doch was unten faktisch ankommt, ist etwas ganz anderes: An den Schulen tobt ein Verteilungskampf um Raum und Zeit. Unterricht fällt aus, weil die neuen Anforderungen anders nicht umsetzbar sind. Schüler und Lehrer hangeln sich mit gefüllten Tupperdosen durch den immer länger währenden Unterrichtstag. Arbeitsgemeinschaften fallen dem neuen Zeitregime zum Opfer, ebenso Projekte und gewisse informelle Schulkulturen, die sich oft nachmittags und abends abspielten und die zum „Geschmack“ einer Schule gehörten.

Aber auch der Unterricht selbst verändert sich: Unterricht dient mehr und mehr der Testvorbereitung und immer weniger dem Erkenntnisprozess. Die sogenannten „Spiralcurricula“ sorgen zu Lasten des Lernfortschritts dafür, dass bestimmte Fertigkeiten jederzeit abrufbar sind. Das Bildungsverständnis selbst wird ohne begleitende Überzeugungsprozesse durch den Kompetenzbegriff umdefiniert und über neue Bewertungs- und Korrekturvorschriften durchgesetzt. Mit Begriffen wie „Produkt- und Output-Orientierung“ wird Abschied genommen von einem personalen Verständnis der Lehrer-Schüler-Beziehung. Umgekehrt müssen Lehrer immer mehr zu Bürokraten werden. Beispiel individuelle Förderpläne: eigentlich eine gute Idee, aber so, wie sie eingeführt worden ist, nichts anderes als ein zusätzlicher bürokratischer Vorgang, dem in den wenigsten Fällen ein inneres Leben, also tatsächliche individuelle Förderung entspricht. Die Liste lässt sich beliebig fortschreiben.

Ich prognostiziere, dass wir in einigen Jahren den statistisch relevanten Output der Schule verbessert und dabei die unterrichtliche und vor allem die pädagogischen Qualität der Schule gesenkt haben werden. Die Öffentlichkeit wird das nicht stören, solange sie den Statistiken mehr glaubt als den Wortmeldungen aus der Schule. Gerade deswegen ist es so wichtig, dass Lehrer und Lehrerinnen sich jetzt zu Wort melden. Es empfiehlt sich, sehr genau hinzuhören. Denn wenn es um die Lehrer geht, geht es letztlich immer auch um die Schüler. Und Letztere sind die Raison d’etre des Lehrberufs, der Schule und aller Bildungspolitik.

Der Autor ist Rektor des Canisius-Kollegs in Berlin.

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