zum Hauptinhalt

Meinung: Nicht zu fassen

Protestwahl? Verdrossenheit? Die Europawahl spiegelt die EU, wie sie ist

Europas Wähler wehren sich. Sie wehren sich gegen eine EU, die ihnen als historisch-pädagogisches Projekt der Eliten von oben verordnet wird. Sie wehren sich aber auch gegen den Verdacht, wer da nicht vollen Herzens mitmache und Ja sage zu einer Integration, die er nicht beeinflussen kann, sei ein schlechter Europäer. Mit ihren Stimmzetteln haben sie ein Gesamtbild von EU-Europa gezeichnet, wie es tatsächlich ist. Und das heißt vor allem: vielfältig, vielschichtig, vielgesichtig. Es ist nicht so leicht zu fassen, nicht in eine kurze Formel zu pressen.

Zwar kursieren jetzt viele Faustregeln, die die Ergebnisse in 25 EU-Staaten auf einen Nenner bringen wollen. Aber bei näherem Hinsehen sind sie nur begrenzt tragfähig. Angeblich wurde, erstens, die Europawahl überall als nationaler Denkzettel genutzt. Die Regierungen wurden abgestraft, die jeweilige Opposition belohnt. Von den sechs Großen stimmt das für Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Polen, nicht aber für Spanien. In Griechenland, der Slowakei und Luxemburg gewannen die regierenden Konservativen deutlich, in Österreich legte Kanzler Schüssels ÖVP um drei Prozentpunkte zu, in Schweden behielten die ebenfalls regierenden Sozialdemokraten die Oberhand. Blairs Schlappe in Großbritannien kam im Übrigen nicht den traditionellen nationalen Konkurrenten, den Tories, zugute, sondern einer europafeindlichen Partei. Da ging’s also auch um Europa.

Zweitens, heißt es, sind die Bürger europaverdrossen – und deshalb empfänglich für antieuropäische Populisten. Bei den Regionalwahlen in Belgien gewann der rechtsnationale Vlaams Blok. Die üblichen Verdächtigen jedoch konnten nicht zulegen. Jörg Haider in Österreich stürzte ab, Le Pens Front National in Frankreich verlor. In Polen hatte man noch vor ein, zwei Monaten einen Sieg der nationalpopulistischen Samoobrona (Selbstverteidigung) befürchtet. Sie wurde nur dritte Kraft.

Erfolg hatten konstruktive Rebellen, die nicht gegen Europa sind, wohl aber Auswüchse der real existierenden EU kritisieren: In den Niederlanden Paul van Buitenen, der vor Jahren finanzielle Unregelmäßigkeiten der von Jacques Santer geführten Kommission aufdeckte. In Österreich der EU-Abgeordnete Hans-Peter Martin, der durch seine Kritik an der TagegeldPraxis bekannt geworden war.

Aber die Wahlbeteiligung! Die ist mit 45,5 Prozent nicht nur erschreckend niedrig, sondern im Vergleich mit 1999 (49,8 Prozent) nochmals gesunken. Zeigt das nicht das Desinteresse an Europa? Vielerorts ist das wohl so. Aber wissen wir so genau, dass Nichtwählen ein Protestschrei ist? Wie viele Bürger interessieren sich für Europa, haben aber das Gefühl, dass sie bei der Wahl dieses Parlaments nicht viel Einfluss nehmen können? Wie viele gehen nicht wählen, weil sie mit Europas Errungenschaft ganz zufrieden sind: dem unbehinderten Reisen, dem gemeinsamen Geld, der freien Wahl von Studienort und Arbeitsplatz? Sie sind keineswegs europafeindlich, vielleicht aber skeptisch, ob es mit der Integration automatisch immer weitergehen muss.

Enthaltung kann eine ganz bewusste Wahl sein. Auch eine taktische. Dass europafeindliche Populisten vielerorts schlechter abschnitten als befürchtet, kann man ja auch so interpretieren: Die Bürger gingen lieber gar nicht wählen, als den Haiders, Le Pens oder den Bauernfängern im Osten ihre Stimmen zu geben. Das wäre kein schlechtes Zeichen für Europa.

Wie aber kann man mehr Bürger dazu bringen, zur nächsten Europawahl zu gehen? Erstens muss man ihnen das Gefühl geben, dass es um etwas geht – auch, dass es um Europa geht. Zweitens, dass sie etwas zu entscheiden haben. Und drittens, dass sie auch Skepsis gegenüber der zunehmenden Kompetenzverlagerung vom Nationalstaat nach Brüssel ausdrücken dürfen, ohne gleich als Antieuropäer zu gelten. Die Zeiten, in denen wohlmeinende Regierungen immer mehr Europa als unabänderliche Wohltat verordnen konnten, sind vorbei. Die Integration hat einen so hohen Grad erreicht, dass die Bürger auch mal „Stopp!“ rufen dürfen, wenn es ihnen zu schnell geht.

Bisher wird der Europawahlkampf wie ein Bundestagswahlkampf inszeniert. Das ist schief gegangen, vielleicht ist das der Politik eine Lehre. Ob Osterweiterung der EU oder Beitrittsperspektive für die Türkei – darüber muss man offen debattieren dürfen, auch im Wahlkampf, ohne sich anhören zu müssen, das wecke doch nur gefährliche Emotionen.

Das Parlament wird erst in mehreren Jahren eine signifikant höhere Bedeutung bekommen, die auch den Wert seiner Wahl wachsen lässt. Und das auch nur, wenn der Verfassungsentwurf Realität wird. So kann man den Europaabgeordneten nur empfehlen, die Wahl 2009 aufzuladen – durch Personen. Sie selbst sind nicht sonderlich bekannt. Zugkraft haben aber die Personen, die als Kommissionspräsidenten und Kommissare in Frage kommen: Ex-Ministerpräsidenten und andere nationale Spitzenpolitiker.

Den Kommissionspräsidenten bestimmen zwar die Regierungschefs – auch am Freitag wieder, beim EU-Gipfel. Doch wer hindert die beiden großen Lager, Sozialisten und Konservative, sich jeweils zu einigen, wen sie gerne an der Spitze sähen. Und mit diesem Ziel in den Wahlkampf zu ziehen. Blair gegen Berlusconi, zum Beispiel. Da wäre für Beteiligung gesorgt.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false