zum Hauptinhalt

Meinung: Nichtstuer als Lebensretter?

Die mangelnde Bereitschaft zur Organspende verführt zu falschen Lösungsideen

Man muss sich die Not der Betroffenen vor Augen führen, das Wechselbad aus Angst und Hoffnung, ihr verzweifeltes Warten. 12 500 Menschen in Deutschland sind zum Weiterleben auf ein Spenderorgan angewiesen. Niere, Leber, Herz, Lunge. Jeden Tag, auch heute wieder, sterben drei von ihnen, weil sie es nicht bekommen. Weil die Wartelisten zu lang und die Gesunden zu bequem sind, sich einen Spenderausweis zu beschaffen. Oder sich nicht mit Gedanken ans eigene Sterben befassen möchten.

Umfragen zufolge wären drei von vier Bürgern bereit, Organe zu spenden. Doch nur 17 Prozent haben das so dokumentiert, dass es nach ihrem Tod auch geschehen kann. Diese Kluft zwischen Wollen und Nichtstun ist unerträglich. Der Gesetzgeber muss handeln. Er hat Leben zu schützen. Nur – wie muss er handeln, damit es gelingt?

Radikal, meinen manche. Wer sich vorher nicht klar dagegen verwahrt hat, dem müssten als Toten einfach Organe entnommen werden dürfen. Mit dieser „Widerspruchslösung“, wie etwa in Österreich und Spanien praktiziert, würde der Spieß umgedreht. Nichtstuer würden zu Lebensrettern. Und weil Trägheit weit verbreitet ist, wäre das Problem gelöst.

Doch wäre es das wirklich? Und wenn ja, zu welchem Preis? Eine Erlaubnis, Organe ohne Einwilligung entnehmen zu dürfen, träfe die Menschen im schutzwürdigsten aller Bereiche: ihrem Selbstbestimmungsrecht. Auch wenn die Kirchen inzwischen (Gott sei Dank) nicht mehr auf körperliche Integrität der Toten beharren und die Bereitschaft zur Organspende als Ausdruck von Nächstenliebe verstehen – eine „Sozialpflicht für Leichen“ kann und darf es nicht geben. Ebenso wenig wie einen Zugriff des Staates auf die körperliche Autonomie seiner Bürger.

Schon die Debatte darüber macht mehr kaputt, als sie an Nutzen bringt. Nicht nur erklärte Gegner der Organspende, auch viele der Unentschlossenen misstrauen dem Transplantationsbetrieb. Sie sorgen sich um Organhandel, haben Angst, als potenzielle Spender von Ärzten zu früh aufgegeben zu werden oder nicht in Würde sterben zu dürfen. Und die aufgeflammte Debatte, ob der Hirntod wirklich das Lebensende markiert oder als Definition nur dem Zweck einer problemlosen Organentnahme dient, trägt auch nicht gerade zur Beruhigung bei.

Nein, die Bereitschaft zur Organspende lässt sich nicht von oben herab verordnen. Jeder Versuch – und dazu zählt die Widerspruchsregelung – befördert Misstrauen und Verweigerung. Staat und Gesellschaft bleibt das mühsame und langwierige Geschäft seriöser Aufklärung und immer neuer Rückversicherung nicht erspart. Eines allerdings darf und muss allen zugemutet werden – die Konfrontation mit dem Thema. Ob bei Führerschein- oder Passausgabe: Wenigstens einmal im Leben sollte sich jeder persönlich zur Organspende erklären müssen. Das ist ethisch das Mindeste, und praktisch ist es womöglich der entscheidende Schlüssel für höhere Spendenbereitschaft.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false