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Meinung: Nordirland: Irische Gletscherzungen

Nordirland ist nicht Nahost. Die handgreiflichen Nachrichten aus dem Nordostzipfel Irlands könnten das Gefühl wecken, alles sei verloren, aber das würde der komplexen Wirklichkeit kaum gerecht.

Nordirland ist nicht Nahost. Die handgreiflichen Nachrichten aus dem Nordostzipfel Irlands könnten das Gefühl wecken, alles sei verloren, aber das würde der komplexen Wirklichkeit kaum gerecht. Es stimmt zwar: Wieder haben sich die nordirischen Parteien nur mit der Geschwindigkeit von Gletscherzungen bewegt. Diesmal allerdings haben die Taufpaten des Friedensprozesses, der britische und der irische Premierminister, offensichtlich die Nase voll. Mit anderen Worten: die nordirischen Politiker sind noch immer zu unreif, um Verantwortung für ihr Tun zu übernehmen.

Worum geht es wirklich? Bei den umstrittenen Themen - Polizeireform, Entwaffnung und Truppenabbau - war beim Karfreitagsabkommen vor über drei Jahren keine einvernehmliche Formel möglich. Inzwischen haben unabhängige Kommissionen beraten und berichtet, aber die politische Kraftprobe ist noch nicht ausgestanden. In diesem Sinne ginge es also um nichts weniger als die Vollendung des Abkommens in jenen Bereichen, die man beim ersten Mal ausklammerte. Doch man kann das zermürbende Seilziehen auch anders sehen: Beide Parteien wollen Klarheit über die langfristigen Absichten der Gegenseite. Für die Protestanten ist die Entwaffnung der IRA zum Lackmustest für die unwiderrufliche Abkehr von der Gewalt geworden, für "das Ende des Krieges", das die IRA im Übrigen noch nie bestätigt hat. Und für die Katholiken ist noch immer unklar, ob der nordirische Staat sein militaristisches Gewand wirklich abstreifen will.

Polizeireform und Truppenabbau stehen stellvertretend für den Aufbau einer zivilen Gesellschaft, in der niemand eine Privatmiliz braucht, um sich seiner Haut zu wehren. Beide Anliegen sind legitim. Doch die Sinn-Féin-Partei und die Ulster Unionisten kämpfen mit ungleich langen Spießen. Sinn Féin denkt in langen Zyklen und legt derweil massig an Wählerstimmen zu. Umgekehrt geht es Protestantenchef Trimble. Er hat Stimmen an die Fundamentalisten von Pfarrer Ian Paisley verloren und kämpft mit seiner eigenen Partei, die bald mehrheitlich gegen das Friedensabkommen ist. Die Zahl der konstruktiven Protestanten schrumpft. Das Karfreitagsabkommen sieht eine paritätisch mit Katholiken und Protestanten besetzte Regierung vor. Wenn Sinn Féin ihre Strategie allzu lange durchhält, gibt es zum Schluss keinen Vertragspartner mehr. Darum sollte sich die IRA in den nächsten Wochen zur Abrüstung bequemen.

London scheint bereit, das vermurkste Gesetzpaket für die nordirische Polizei noch einmal aufzuschnüren, um sicher zu stellen, dass kein neuer Staat im Staat ensteht. London will auch einige Beobachtungstürme und Kasernen schleifen. Das müsste reichen. Denn in den kommenden elf Monaten wird die IRA ohnehin abrüsten, um in der Republik Irland nach der nächsten Parlamentswahl regierungsfähig zu werden. Also: warum nicht gleich? Eingeweihte melden, dass die IRA dabei ist, ihre hartgesottenen Mitglieder genau darauf vorzubereiten.

Martin Alioth

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