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Das Leben muss weitergehen. Kinder spielen auf einer Wiese neben einer Trauerstätte für die 77 Opfer der Anschläge in Norwegen.

© AFP

Norwegen: Eine Gesellschaft der Furchtlosen

Aus den internationalen Reaktionen auf das Attentat spricht ein Mangel an Empathie. Norwegen mit Jens Stoltenberg erinnert daran, dass mehr Demokratie mehr Freiheit schaffen kann.

Anders Behring Breivik und das, was er tat, verändert viel. Die Welt? Norwegen zunächst. Es gebe ein Norwegen davor und ein Norwegen danach, aber was Norwegen in der Zukunft sein werde, „das haben wir selbst in der Hand“. Sagt Jens Stoltenberg, der ergraute junge Ministerpräsident dieses Landes in Trauer, wohlgemerkt in Trauer, nicht unter Schock. Doch dazu später. Stoltenberg war bisher ein vermeintlicher Paradefunktionär des Sozialdemokratismus, ein Elitist der Macht. Nun hat er aber etwas begonnen, das man am besten als „das große Gespräch der Gesellschaft“ fassen kann.

Das ist ein Projekt, eines mit Vergangenheit und Zukunft. Und ein Prozess. Stoltenberg treibt ihn an, der Mann, der für seine Landsleute zum Inbegriff von Haltung in politischer und persönlicher Hinsicht wird. Er will auf handhabbare Begriffe bringen, was Norwegen fühlt und denkt; was, nach dem Attentat auf die Seele einer Nation, die Menschen in seinem Land besser denken sollen. Und auf Begriffe muss – nach Theodor Eschenburg, dem großen Politikwissenschaftler – bringen, wer in der Gesellschaft grundsätzlich etwas bewirken will.

Stoltenberg will erreichen, dass Norwegen gerade in diesem Moment nicht mit nationaler Einengung reagiert, mit nationalistischer Gesinnung, sondern dass es, wie er sich ausdrückte, mit mehr Demokratie und mehr Offenheit und mehr Zusammenhalt antwortet. Das erinnert frappant ein weiteres Mal, neben seinem Begriff vom großen Gespräch der Gesellschaft, an Willy Brandt. Dieser deutsche Politiker war es, der, aus Norwegen in der Nachkriegszeit zurückgekehrt, in Deutschland wie kein Zweiter nach den Jahren des Muffs unter den Talaren mehr Demokratie wagen wollte. Zunächst in Berlin, als Regierender, danach in Bonn, 1969, nach der Studentenrevolte, mit genau diesem Motto als Kanzlerkandidat. Brandt gewann, als Politiker wie als Person.

Mehr Demokratie, mehr Offenheit, mehr Zusammenhalt, verbunden mit der pathosfreien und authentischen Bitte, „zusammenzustehen und aufeinander achtzugeben“ – wie sehr kontrastiert das mit dem, was in Deutschland die Gesellschaft, besser: ihr politischer Teil, gegenwärtig bespricht. Das Deutschland, das aufgrund seiner Anlagen alle Chancen hätte, vorbildlich zu handeln. Angesichts seiner auch durch die Finanz- und Weltwirtschaftskrise nicht gebrochenen Wirtschaftskraft, seiner nachgewiesenen Integrationsfähigkeit im Verlauf der vergangenen 20 Jahre, zumindest im Allgemeinen. Statt aber jetzt vom Großen ins Kleine zu wirken, mithin zunächst das Ziel zu formulieren und dann die Wege und Mittel zu dessen Erreichung zu definieren, sind die Antworten: Reflexe. Bestenfalls geben sie Aufschluss über eine minimal intellektuelle Auseinandersetzung, die noch dazu nicht von führenden Politikern angestoßen wird. Der Ruf nach „Vorratsdatenspeicherung“ macht es deutlich. Weder hat die Tat von Oslo sachlich gesehen damit etwas zu schaffen, noch dürfte sie für die Forderung einzelner Abgeordneter instrumentalisiert werden. Das legt zweierlei offen, und man kann es durchaus als Wunde bezeichnen: einen Mangel an Empathie und Stil einerseits, dazu einen Mangel an Überblick andererseits.

Die Dimension des Geschehens allein national zu begreifen, auf diese Idee sind die Norweger für sich nicht gekommen, und sie hätten dazu mehr Berechtigung als jede andere Nation. Ihre Haltung allerdings – und das ist nicht als bloß semantische Unterscheidung zu verstehen – bietet das Fundament für immer wieder neu zu findende politische Positionen. Der Unterschied zum deutschen Verhalten ist dabei so offenbar geworden, eben weil Stoltenberg in die Rolle desjenigen hineinwächst, der im besten Sinn Führung anbietet, „Leadership“, wie es die Amerikaner für sensible deutsche Ohren weniger geschichtsmächtig aufgeladen nennen.

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Die Selbstvergewisserung Norwegens nach der Tat von Anders Behring Breivik hat begonnen. Die Veränderung wird nicht in erster Linie sicherheitspolitisch sein: Der Staat, dort wie hier, hat sich gewappnet. Online-Durchsuchungen und Telefonabhöraktionen sind möglich, die Speicherung von Daten im Verdachtsfall für eine bestimmte Zeit wird möglich werden. Verdächtige werden vielleicht nicht katalogisiert, aber systematisch aufgespürt, soweit das in den Weiten des Internets möglich ist. Doch über allem steht das Legalitätsprinzip des demokratischen Staats, der nicht dem Missverständnis von immer mehr Sicherheit durch immer mehr Überwachung erliegen oder es fördern darf. Wer das auch nur im Ansatz tut, vergiftet nicht allein das politische, sondern das gesellschaftliche Klima.

Womit die Grundlage für die Behauptung gelegt ist, dass Norwegen nicht unter Schock erratisch oder autistisch handelt. Vielmehr haben dessen staatliche Repräsentanten, vom König über den Kronprinzen bis zum Ministerpräsidenten, dem Volk die Sicherheit gegeben, die es benötigt, um das große Gespräch über die Gesellschaft von morgen zu führen. Denn dass es geführt werden muss, ist von „oben“ bis ins Volk hinein allen klar. Dabei werden rechtsextremere Ansichten, verbunden mit Fremdenabwehr, nicht hoffähig werden, selbst wenn sie auf Wahllisten zu finden sind. Der Status des Sonderlings erfasst – mindestens einstweilen – vor allem sie, nicht die anderen Glaubens oder anderer Hautfarbe.

Norwegen wird sich verändern, ist schon allein durch die Tat verändert, aber es soll zu seinen Werten stehen, ist das erste kleinere Fazit. Ob ungewollt oder genau so gewollt, in jedem Fall intellektuell fordernd hatte Kronprinz Haakon auf einen christlichen Fundamentalisten im Kern mit der christlichen Trias „Glaube, Liebe, Hoffnung“ geantwortet. König Harald V. wiederum sprach den politisch wichtigsten Aspekt an, als er sagte: „Freiheit ist stärker als Furcht.“ Neben den Sätzen seines Sohnes Haakon ist das ein willkommenes Leitmotiv für die Selbstprüfung. Denn wer Demokratie gegen Freiheit ausspielt, zielt auf ein Kernstück jeder demokratischen Verfasstheit, die Freiheit durch Demokratie will.

„Das große Gespräch der Gesellschaft verkommt zum Gezänk, wenn Angst und Verdächtigungen es überwuchern. Und es endet auch leicht dort, wo ideologischer Dogmatismus oder opportunistisches Nach-dem-Mund-Reden beginnen. Der Bürger hat Anspruch darauf zu wissen, was Politiker in der Sache wollen, aufgrund welcher Wertvorstellungen sie es wollen, und wie sie meinen, es realisieren zu können.“ Das sagte Willy Brandt als Kanzler 1973 in der Evangelischen Akademie Bad Segeberg. Er war ein Richtunggeber. Nicht nur, dass seine Wort auf die aktuelle Situation passen, sie decken auch die aktuellen Leerstellen auf. Wie Brandt ausführt: Es ist ein Trugschluss, Demokratie auf das bloße Prinzip der Mehrheitsentscheidung einzuengen und dann das Element der Bedrohung, will sagen der Furcht, gegen die Freiheit auszuspielen.

Das große Gespräch der Gesellschaft funktioniert als Gerüst. Es rettet und entwickelt zugleich deren Offenheit. Es schließt die Sachauseinandersetzung nicht aus, setzt sie sogar voraus, „damit in einer möglichst breiten Diskussion ein Höchstmaß an Übereinstimmung erzielt werden kann. Und die breite Diskussion wird um so fruchtbarer sein, je mehr Bürger sich daran beteiligen, je mehr mitwirken und mitentscheiden“. Sagte Willy Brandt, der „Sturmläufe gegen die fortschreitende Demokratisierung der Gesellschaft“ beklagte und neue Fronten mit dem Ziel, Freiheit und Demokratie in einen Gegensatz zu bringen. „Das kann zu einem besonders gefährlichen Angriff auf die freiheitlich-demokratische Grundordnung werden.“

Diese Worte lesen sich heute noch wie eine Blaupause, wie die Handlungsanleitung für Regierungen in moderner Zeit, in denen Dialog mit der Gesellschaft gar nicht mehr verweigert werden kann, weil er per se schon auf so vielen Kanälen stattfindet. Unter Benennung klarer Verantwortlichkeit und Themen müssen darum die, die in Verantwortung gewählt worden sind, eigentlich umso mehr kommunizieren. Nicht in einfachen, nur plakativen Botschaften, in Wahlslogans beispielsweise, sondern (wieder) erheblich mehr im Forum der demokratischen Öffentlichkeit, dem Parlament, und Auge in Auge mit dem Souverän, etwa bei Veranstaltungen wie Townhall- Meetings. Die Unmittelbarkeit der Begegnung mit anderen Meinungen und Anschauungen befähigt doch den Bürger mehr und mehr, der Citoyen zu sein, das Mitglied einer sich festigenden Zivilgesellschaft, in der er als der „freie Bürger die Chance erhält, nicht nur Objekt von Weisungen, sondern mehr und mehr Subjekt von Entscheidungen“ (Brandt) zu werden. Auf einen anderen Begriff gebracht: Wissen begründet Macht.

Das alles wird in Deutschland zu Teilen sträflich vernachlässigt. Sich zu erklären, Politik zu erklären findet gegenwärtig immer weniger statt. Anstelle einer der Moderne angepassten Führung, einer – angesichts der Globalisierung – real existierenden Weltinnenpolitik wird vielmehr eine Innenschau betrieben, aufs eigene Land konzentriert, und eine Binnenschau, die Koalition betreffend. Entscheidungen werden getroffen, ohne dass Sachauseinandersetzungen, die diese Wertung verdient hätten, stattfinden. Und der fürs große Gespräch der Gesellschaft förderliche politische Streit zeigt sich weniger als Meinungsstreit denn als Profilierungsgestus.

Das ist, alles in allem, erheblich weniger, als das kleine Norwegen leistet. Dem geht es nicht zuerst darum, mehr zu verbieten, etwa im Internet, sondern um das, was geboten ist: die Erklärung, buchstäblich, dass es Terror gleich von welcher Seite nicht gelingen darf, eine Gesellschaft in ihren Grundfesten zu verändern. Wer sich selbst radikalisiert mit seinen Forderungen, der führt zu Neoradikalismen und bereitet Neoradikalen das Feld. Neoradikalismus ist verwoben mit Neonazismus. Darum ist immerhin eine These, ob es nicht gerade der Bekämpfung der Symptome und damit der Ertüchtigung der Gesellschaft zu effektiver Abwehr dient, wenn eine Debatte geführt wird, wie sie Ende der 60er Jahre misslungen ist. Sie ging auch wieder von Willy Brandt aus, der auf dem Nürnberger Parteitag von 1968 darzulegen versucht hatte, dass „Nazismus Verrat an Land und Volk“ sei. Dieser Gedanke, mit dem er die Neonazis entmachten und einen Begriff besetzen wollte, drang aber leider nicht durch.

Wer nun glaubhaft machen kann, dass er sich nicht von taktischen Erwägungen leiten lässt, der kann jetzt die Debatte nachholen, was geschehen muss, „um unsere demokratische Ordnung wirksamer als bisher gegen demokratiefeindliche und ‚volksverräterische’ Kräfte zu sichern“, wie Brandt als SPD-Chef im Januar 1969 an den Unternehmer Philip Rosenthal schrieb. Darin ging es um die „Modernisierung und Effektivierung der Demokratie sowie Abwehr demokratiefeindlicher Kräfte“ – und um die „stümperhafte und widerspruchsvolle Behandlung der Frage eines Verbotsantrags“ der NPD. Schon damals also.

Heute kann die Antwort aber genauso wenig in einem „Zurück zur Nation“ liegen, erst recht nicht im Zeitalter transnationaler Freiheitsbewegungen. Das wäre auch unpatriotisch, wie der Soziologe Ulrich Beck meint. Er sieht, im ausdrücklichen Bezug zu Brandt, „Kosmopolitismus“ heraufziehen, der einen neuen Integrations- und Identitätsbegriff, ein Zusammenleben über Grenzen hinweg „bejaht, ohne dass Eigenheit und Differenz auf dem Altar der nationalen Homogenität geopfert werden müssen“. Jedenfalls besteht er in mehr als der Einigung über die Vorratsdatenspeicherung im europäischen Rahmen.

Wo Beck den größeren Rahmen absteckt, die Haltung formuliert, wie Deutschland sie haben sollte, passt als Maxime des Handelns, was der Auschwitz-Überlebende Max Mannheimer, berühmt geworden durch seine unverdrossenen Gespräche mit Neonazis, lebt. Einerseits war schon vor Jahren sein Optimismus gedämpft, dass Rassismus und Neonazismus nicht mehr gefährlich werden könnten, „wenn ich mich so auf der Weltkugel umsehe, wozu Menschen imstande sind, was sie anderen Menschen antun“. Andererseits hat ihn, sagte er vor kürzerer Frist, die Härte, die er erfahren hat, nicht hart gemacht. Darum geht es, im Persönlichen und in der Gesellschaft. In dieser Richtung haben Jens Stoltenberg – der in seiner Art die Wiederkehr eines Olof-Palme-Politikertypus ist, des skandinavischen Willy Brandt –, Kronprinz Haakon und König Harald unisono gesprochen: Wie die Werte unserer Zukunft sein werden, haben wir selbst in der Hand. Die Norweger, wir.

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