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Meinung: Ochs und Esel leben hoch

Wieder einmal irren die Propheten des freien Marktes

Nachdem der Sozialismus untergegangen ist und sich die Gesetze des historischen Materialismus als Hokuspokus erwiesen haben, blieb es den neoliberalen Wirtschaftspropheten vorbehalten, auf soziale Forderungen mit den ehernen Gesetzen des Marktes, also einer neuen Form des historischen Materialismus zu reagieren.

Jahrelang wiesen sie uns nach, warum die Reformbemühungen von Schröder und Merkel nicht ausreichend für eine durchgreifende Konjunkturerholung seien und was noch alles abgebaut, eingeschränkt und flexibilisiert werden müsse, bevor von der Wirtschaft neue Arbeitsplätze geschaffen werden könnten. Arbeitslosigkeit, so sollten wir lernen, sei eine Folge schlechter Politik und nicht von unternehmerischen Fehlentscheidungen und konjunkturellen Schwankungen. Immerhin haben die Rüther, Sinn und tutti quanti inzwischen eingeräumt, sich geirrt zu haben, nachdem sich ihre wissenschaftlichen Voraussagen als Kaffeesatzleserei entpuppt haben. Nun gerät die nächste prophetische Eingebung ins Rutschen: der hohe Ölpreis.

Denn genauso lange wie der Nichtaufschwung beschworen wurde hielt sich das Dogma vom steigenden Ölpreis. Abnehmende Vorräte, amerikanische Verschwendung und wachsender Bedarf in Indien und China sollten das eherne Gesetz eines steigenden Ölpreises belegen. Und nun sperrt Russlands ehemalige Provinz Weißrussland den Öltransfer nach Westen und niemand regt sich auf, der Ölpreis sinkt sogar statt zu steigen. Wieder muss eine verunsicherte Prophetenschar zu erklären suchen, was nach ihrer Analyse nicht zu erklären ist. Der milde Winter kommt da gerade recht.

Nun können sich Wirtschaftsforschungsinstitute genauso irren wie Kartenleger, Psychologen oder Wetterpropheten. Was die Sache ärgerlich macht, ist die wissenschaftliche Bedingungslosigkeit mit der jahrelang das angeblich Richtige vom angeblich Falschen geschieden und jede abweichende Meinung mit Nichtachtung gestraft wurde – getreu einem etwas abgewandelten Satz des weiland Erich Honecker: Den freien Markt in seinem Lauf halten weder Ochs noch Esel auf.

Man kann nur hoffen, dass Ochs und Esel, also Seehofer, Rüttgers, Müntefering und wer sonst noch die Unfehlbarkeit der neuen Ideologie bezweifelt hat, sich daran erinnern, wenn wieder einmal unabdingbare Voraussetzungen für einen nachhaltigen Wirtschaftsaufschwung formuliert werden, dass manche Prophezeiungen und die daraus abgeleiteten gesellschaftlichen Forderungen wohl eher interessengeleitet als situationsbedingt sind, getreu einem anderen wohl wirklich ehernen Gesetz des Marktes, das da lautet: Wes’ Brot ich ess’, des’ Lied ich sing.

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