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Meinung: Ohne Belohnung

WO IST GOTT? Vor vielen Jahren befand ich mich in einer Stadt, die ich nicht kannte.

WO IST GOTT?

Vor vielen Jahren befand ich mich in einer Stadt, die ich nicht kannte. Die Sprache, sogar die Schrift waren unverständlich für meine ungeübten Ohren und Augen. Ich stand an einer Straßenecke mit einer Karte in der Hand und versuchte, die seltsamen Zeichen auf ihr mit den Straßenn über mir zur Deckung zu bringen – ohne Erfolg. Ein Mann undefinierten Alters näherte sich mir und gestikulierte in Richtung der Karte. Ich zeigte ihm den Brief mit der Adresse, die ich suchte. Er nahm mich bei der Hand und schweigend gingen wir die etwa 20 Blocks zu dem Ort, zu dem ich wollte. Ich versuchte, ihm etwas Geld zu geben, aber er schüttelte den Kopf und ging weg. Bis heute bin ich nicht sicher, warum er tat, was er tat.

Würde ich selber quer durch die Stadt laufen, um jemanden den Weg zu weisen? Ich würde und habe es getan, in Wirklichkeit und als Metapher. Und ich empfinde auch, dass dies andere dazu bringt, etwas Ähnliches zu tun, ungefragt und ohne Belohnung. Ist das Altruismus? Ich bin nicht sicher.

Als Maimonides, der mittelalterliche jüdische Philosoph, eine Liste wohltätiger Handlungen aufstellte, begann er mit denen, die selbstbezogen waren, bei denen die Geber glaubten, dass sie einen Vorteil aus ihren Taten ziehen würden (wenn nicht in diesem, dann im nächsten Leben). Die beste Tat war in seinen Augen die, bei der der Empfänger nicht einmal weiß, dass er ein Almosen bekommt. Die Tat eines Fremden, der uneigennützig, ohne Interesse, handelt, ist ein Zeichen des lebendigen Gottes. Gott existiert in genau diesem wohltätigen Akt.

Nietzsche schrieb nicht, dass Gott tot war, sondern dass wir ihn an Orten anbeteten, die Gräber seien. Für ihn zeigte der sinnentleerte Gottesdienst, dass Gott in diesen Totenhäusern nicht anwesend war. Was hat das alles mit Jürgen W. Möllemann zu tun? In den letzten Wochen habe ich mitbekommen, wie er einen öffentlichen Aufschrei mit seinen populistischen und rassistischen Bemerkungen auslöste (etwa, indem er die Juden für den Antisemitismus verantwortlich machte). So habe ich die schlimmste Sorte eigennütziger Politik in Aktion gesehen. Man hat den Eindruck, dass Möllemann und seine Kollegen sich zusammengesetzt und gesagt haben: Wie können wir die Zahl unserer Wählerstimmen im September erhöhen? Le Pen bekam 20, Fortuyn fast 30 Prozent. Lasst uns die rassistische Karte spielen und sehen, ob wir 18 Prozent erreichen. Wenn Gott in jenen guten Taten lebt, die nicht in Erwartung einer Belohnung getan werden, dann ist Nietzsches Totentempel das Haus, das Möllemann baut.

Ressentiments für parteipolitische Ziele zu benutzen, ungeachtet wen es verletzt noch was die Folgen sein werden, das ist die Antithese jener Handlungen, die aus einem Geist der Hilfsbereitschaft gegenüber anderen begangen werden. Das bedeutet nicht, dass Möllemann keinen Erfolg haben könnte. Aber das Haus, das er baut, wird die Quelle der eigenen Zerstörung in sich tragen. Nietzsche sah jede Religion als solch eine Art von Totenhaus. Gott lebt anderswo.

Der Autor ist Professor für Kulturwissenschaft und Medizin an der Universität Illinois-Chicago.

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