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Meinung: Ohne Qual zur Wahl

Das Karlsruher Urteil lehrt auch: Ein Kanzler muss einfacher zurücktreten können

Wollen wir noch einmal über Pest und Cholera reden? Der Richter Winfried Hassemer hat die Seuchen in die NeuwahlDebatte eingeführt – dass das Bundesverfassungsgericht bei seinem Urteil über Gerhard Schröders Vertrauensfrage sich nur zwischen zwei Übeln habe entscheiden können, sei falsch. Das sehen viele anders, insbesondere die Unterlegenen. Man könnte den Streit als akademisch abtun – wäre aus ihm nicht ein Streit darüber entstanden, welche Konsequenzen die Politik aus dem Urteil ziehen muss. Und da sind wir schnell wieder bei den zwei Plagen. Denn mancher ist dabei, Pest mit Cholera auszutreiben.

Das Karlsruher Urteil, sagen seine Kritiker, entmachte das Parlament und gebe dem Kanzler zu viel Einfluss. Jeder Regierungschef könne künftig, wenn er keine Lust mehr auf Zank mit Abweichlern habe, den Bundestag auflösen: Er müsse nur „vorausgeahntes Misstrauen“ behaupten und ein paar treue Gefolgsleute dazu bringen, ihm das Vertrauen zu verweigern.

Nun klingen solche Szenarien viel plausibler, als sie im wirklichen Leben sind. Eines Kanzlers Krisengefühle müssten ja zumindest so stichhaltig sein, dass sie auch den Bundespräsidenten überzeugen. Aber unsere Sorge liegt anderswo begründet – in dem flugs verbreiteten Glauben, man könne die diagnostizierte Pest der „Kanzlerdemokratie“ damit heilen, dass der Bundestag ein Recht auf Selbstauflösung erhält.

Nun kann man Gründe dafür nennen, dass ein solches Recht sinnvoll sein könnte, ebenso wie gute Gründe dagegen. Nur – im konkreten Fall des Jahres 2005 hätte ein Auflösungsrecht auch nicht weitergeholfen. So oder so hätten Gerhard Schröder und Franz Müntefering ihre widerstrebenden Abgeordneten dazu bringen müssen, ihnen einen Neuwahlcoup abzusegnen. So oder so wäre Druck ausgeübt worden. Eine Stärkung des Parlaments? In der Theorie vielleicht. In der Praxis kaum. Und wünschenswert? Ein Kanzler, zum Weiterregieren gezwungen, weil er keine Mehrheit gegen sich findet – das wäre ja wohl auch absurd.

Es bliebe ihm dann nur der Rücktritt. Und damit sind wir beim Kern des Problems. Der Kanzler-Rücktritt ist nämlich nach geltendem Recht eine unsinnig qualvolle Prozedur. Erst wenn mehrere Versuche gescheitert sind, im Bundestag einen neuen Kanzler zu wählen, darf der Bundespräsident vorzeitige Bundestagswahlen ansetzen. Im konkreten Fall 2005 also: Schröder tritt zurück, Angela Merkel tritt mangels Mehrheit nicht an, irgendeiner wird als Kandidatendarsteller ausgeguckt und fällt nach Drehbuch durch. Theater? Theater, und schlechtes. Der Bundespräsident Karl Carstens fand die Vorstellung so grässlich, dass er lieber Helmut Kohl die absichtlich verlorene Vertrauensfrage durchgehen ließ.

Aber das lässt sich ändern. Es ginge ohne peinliche Szenen. Man müsste nur dem Kanzler im Grundgesetz ausdrücklich das Recht auf Rücktritt einräumen – es steht dort bisher nicht –, außerdem dem Bundestag erlauben, auf inszenierte Nachfolgerwahlen zu verzichten, und dem Bundespräsidenten dann ermöglichen, Neuwahlen anzusetzen. Das Verfahren würde kein Verfassungsorgan in seinen Rechten schmälern und wäre nicht nur für Leute verständlich, die Staatsrecht als Hobby betreiben. Macht den Rücktritt einfacher!

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