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Andreas Lübbe ist Arzt und lehrt Palliativmedizin.

© privat

Palliativmedizin: Im Sterben helfen

Ärzte werden zum Heilen ausgebildet – deshalb sind sie mit der Behandlung am Lebensende oft überfordert. Palliativmedizin ist nun zu einem wichtigen Querschnittsfach in der Medizin geworden.

Der Begriff Palliativmedizin kennzeichnet einen Bereich in der Medizin, der alt und neu zugleich ist. Er ist alt, weil es ihn immer gab, erst recht zu Zeiten, in denen die Beseitigung lebensbedrohlicher Krankheiten unmöglich oder dem Zufall vorbehalten war. Was gab es früher schon, außer der Linderung von Beschwerden, dem Trösten von Patienten und der Unterstützung von Betroffenen? Palliativmedizin ist andererseits neu, weil sie sich in einer Zeit der rasanten Fortentwicklung der Medizin, die heilen will und nicht selten den Tod als ein Versagen der Medizin ansieht, neu entfalten konnte. Denn trotz der modernen Medizin, und nicht selten sogar wegen ihr, sind bei Leid und Tod (vielleicht später, möglicherweise anders) Linderung und Vorbereitung auf die Zeit des Sterbens mehr denn je notwendig.

Palliativmedizin ist nun zu einem wichtigen Querschnittsfach in der Medizin geworden. Sie betrifft alle Menschen mit chronischen und in einer absehbaren Zeit zum Tode führenden Erkrankungen. Sie ist allein schon deswegen für uns alle von Bedeutung, weil unsere Gesellschaft älter wird und besonders ältere Menschen chronisch erkranken. Palliativmedizin betrifft uns alle also auch irgendwann selbst. Die meisten von uns sterben nicht plötzlich und unerwartet oder infolge eines akuten Ereignisses, sondern wegen eines Krebsleidens oder eines chronischen Organversagens (Herzschwäche, Demenz, chronisch-obstruktive Lungenerkrankung).

Zu oft glaubte man, man könne des Sterben einfach hinausschieben

Erfreulicherweise hat sich die Palliativmedizin in den vergangenen zwei Jahrzehnten in Deutschland rasant entwickelt. Zu lange glaubte man, auch bei sterbenden Menschen das Leben durch verlängernde Maßnahmen nach hinten hinausschieben zu können. Bis heute tut die Medizin das übrigens noch viel zu oft, zum Beispiel durch Chemotherapien bei Patienten mit fortgeschrittenem Tumorleiden, was in den Augen mancher Vorrang vor der Palliativmedizin genießt. Aber immerhin hat ein Umdenkprozess stattgefunden. Bei über 200 Palliativstationen deutschlandweit mit fast ebenso vielen stationären Hospizen, unzähligen, ambulanten Hospizdiensten, einer begonnenen ambulanten palliativmedizinischen Versorgung und knapp 5000 ausgebildeten Palliativmedizinern sollte man meinen, Deutschland sei auf einem gutem Weg hin zu einer menschenwürdigen Medizin. Einer Medizin, die das Selbstbestimmungsrecht des Patienten achtet. In Teilen gelingt das auch.

Palliativmedizin ist aber mehr als Schmerztherapie oder eine optimierte Form der Symptomkontrolle. Sie orientiert sich an ethischen Prinzipien, wobei das Ausbalancieren von Benefizienz („Gutes tun“) gegenüber der Non-Malefizienz („Schaden vermeiden“) eine Kunst darstellt, die nicht nur gelernte professionelle Kommunikationskompetenz fordert. Ein geradezu herausragendes Kennzeichen der Palliativmedizin ist es, die individuellen Bedürfnisse des Patienten zu erfassen, ihn also nach seinen persönlichen Fähigkeiten und Wünschen zu befragen und seine Persönlichkeit im Rahmen seiner Biografie zu begreifen. Dieser Prozess erfordert einen wahrhaftigen und wertschätzenden Umgang. Dazu gehört die bedingungslose Rückbesinnung auf das, was dem Menschen in dieser Zeit des Leides wichtig ist und das vorbehaltlose Annehmen des Gegenübers.

Dabei ist die Frage, wie lange ein Patient noch zu leben hat, von besonderer Wichtigkeit, wenn es um die Entwicklung eines „informed consent“ bezüglich diagnostischer und therapeutischer Möglichkeiten geht. Aber unter welchen Umständen und wie häufig wird tatsächlich eine Abschätzung der Lebenszeit vorgenommen und mit den Patienten besprochen? Die hierzu vorliegenden Untersuchungen zeigen sogar bei den Ärzten, die ihre Patienten besonders gut kennen, eine deutliche Überschätzung der noch verbleibenden Lebenszeit. Das sollte zu denken geben, wenn man Patienten am Lebensende unnötige belastende diagnostische und therapeutische Maßnahmen ersparen möchte.

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Auch die Tatsache, dass Patienten mit identischen Beschwerden höchst unterschiedlich auf Maßnahmen zur Symptomkontrolle reagieren, zeigt zweierlei: Zum einen, wie schwierig die Behandlung subjektiv wahrgenommener Missempfindungen in Wirklichkeit ist, denn in ihr spiegelt sich die Persönlichkeit des Patienten und seine Enttäuschung mit der Situation, auch seine ganze Hilflosigkeit. Ein alleinstehender Mann, der sein ganzes Leben lang in Deutschland gelebt und sich durch alle Wirrungen des Lebens allein durchgeschlagen hat, ohne Familie zu haben, die ihn unterstützt, wird mit den Schmerzen infolge von Knochenmetastasen anders umgehen, als eine Patientin, südeuropäischer Herkunft, die im Kreise einer Großfamilie geborgen ist. So einzigartig wie der Mensch ist und sich von anderen unterscheidet, so individuell sollte seine Behandlung gestaltet sein. Der andere Grund, warum Patienten mit identischen Beschwerden auf gleiche medizinische Maßnahmen höchst unterschiedlich reagieren, liegt in der überaus komplexen Interaktion der Symptome oder Symptomcluster (häufig zusammengehörige körperliche Missempfindungen) und dem Wechselspiel zwischen Schmerzen, internistischen und neuropsychiatrischen Beschwerden. Wie werde ich einem Patienten am besten gerecht, der wegen seiner Verwirrtheit die Nacht zum Tag macht und dessen Äußerung zu Schmerzen nicht unmittelbar zu interpretieren ist? Was bedeutet die Linderung subjektiv wahrgenommener Missempfindung bei einem dementen Patienten, der sich zu sich selbst zu äußern nicht mehr in der Lage ist? Wann ist dem Wunsch nach einem Ende der Behandlung bei einem depressiven Patienten nachzugeben? Das sind nur ein paar Beispiele aus der täglichen Arbeit eines Palliativmediziners.

Sogar die Ärzte überschätzen oft die Lebenszeit, die bleibt

Das alles erfordert Spezialwissen durch Kollegen, die sich ihrer Grenzen ständig bewusst sind. Das alles ruft nach spezialisierter ambulanter und stationärer Palliativmedizin. Dass schon jetzt begrifflich zwischen einer „allgemeinen ambulanten palliativmedizinischen Versorgung“ (AAPV) und einer „spezialisierten ambulanten palliativmedizinischen Versorgung“ (SAPV) unterschieden wird, ist aber leider irreführend. In den Gesetzestexten dazu heißt es sinngemäß, dass wenn bei einem Patienten zu Hause ein Symptom vorliegt, das besonders ausgeprägt ist und einer besonders intensiven Zuwendung bedarf, eine spezielle palliativmedizinische Dienstleistung erbracht werden soll. Zwar würde durch eine AAPV eine gute Behandlung und Pflege möglich sein, doch benötigte ein geringer Anteil der Betroffenen eine spezialisierte Art der Versorgung in Form der SAPV. „Spezialisiert“ bezieht sich hier auf Dienstleistungsstrukturen und damit auf Vergütungsfragen. Diese Begriffe sind nicht unumstritten, weil sich die Symptomanzahl und -intensität bei einem Patienten im zeitlichen Verlauf regelhaft ändert und daher auch der jeweilige Versorgungsstatus (allgemein vs. spezialisiert) permanent angepasst werden müsste. Die Begriffe SAPV und AAPV bilden die Alltagsrealität kaum ab und suggerieren sogar eine unterschiedliche Bewertung eines Symptoms und seiner Intensität. Der Vorstand der Bundesärztekammer kritisierte anlässlich des 114. Deutschen Ärztetages in Kiel die schwierigen Rahmenbedingungen, die sich aus dem Wettbewerbsstärkungsgesetz ergeben, wonach Einzelverträge mit den Krankenkassen geschlossen werden müssen. Dies sei der Grund für eine mangelhafte Versorgung mit spezialisierter Palliativmedizin. Dies ist mitnichten der Fall, denn die Formulierung suggeriert, man wisse genau, was sich unter spezialisierter Palliativmedizin verberge, könne sie aber nicht umsetzen, da sie nicht vergütet werde.

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Palliativmedizin sollte in ihren Grundzügen von jedem am Patienten arbeitenden Arzt beherrscht werden und muss deswegen in der Medizinerausbildung eine noch viel größere Rolle spielen. Es sollte zum selbstverständlichen Bedürfnis der Fakultäten, nicht zur lästigen Pflicht werden, die Elemente der Palliativmedizin möglichst vielen Studenten nahezubringen. Es macht Sinn, sich an den Ausbildungsinhalten zu orientieren, die heutzutage von Fachärzten gelernt werden müssen, um in 160 Stunden (Grundkurs mit 40 Stunden, Aufbaukurs mit 120 Stunden) die Zusatzbezeichnung für Palliativmedizin zu erwerben.

Palliativmedizin muss Kerngebiet der Medizin sein und die Vermittlung ihrer Prinzipien und Werkzeuge gehört in erheblichem Maße und so früh wie möglich in die Ausbildung von Ärzten. Dies ist bisher lediglich in Ansätzen zu spüren.

Die Hochschulen tun sich schwer, in den ohnehin veralteten und mit Theorie und unnötigem praktischen Wissen überfrachteten Ausbildungskatalog nun auch noch das neue Querschnittsfach Palliativmedizin zu integrieren. Immerhin ist Palliativmedizin mittlerweile zum Pflichtfach aufgestiegen und muss somit von einer Fakultät angeboten und geprüft werden. Dort wo Professuren für Palliativmedizin etabliert worden sind, gelingt die Etablierung des Faches bereits recht gut, in den fast 30 medizinischen Fakultäten in Deutschland ohne eine solche Stelle zumeist eher schlecht. Das Medizinstudium ist nun allerdings der Ort, an dem die Grundlagen und das Selbstverständnis für die Palliativmedizin beigebracht werden müssen, damit zukünftig jeder Arzt weiß, wo die Grenzen der Palliativmedizin verlaufen und welche Werkzeuge dazu gehören. Nicht zuletzt auch damit sie vom Image der „Sterbemedizin“ oder der „Schmerzmedizin“ befreit wird oder von anderen mit ihr häufig in Zusammenhang gestellten Assoziationen.

Viel zu selten fallen ungeeignete Ärzte bei der Prüfung durch

Im Gegenzug sollte die Ausbildung zum (spezialisierten) Palliativmediziner über mehrere Jahre erfolgen und – wie in anderen Ländern auch – in den Status einer Facharztweiterbildung gehoben werden, damit den Bedingungen für die Berücksichtigung der Komplexizität am Lebensende ausreichend Rechnung getragen wird. Palliativmedizinische Fachärzte sollten denjenigen zur Seite gestellt werden, die in der Praxis oder Klinik nur gelegentlich mit derartigen Fragestellungen zu tun haben.

Ob die inflationäre Weiterbildung zum Erwerb der Zusatzbezeichnung Palliativmedizin für Haus- und Fachärzte weiterhin auf ihre Art betrieben werden sollte, ist zumindest langfristig kritisch zu hinterfragen. Das hat mit dem zum Teil erschreckend niedrigen Niveau zu tun, auf dem diese Ausbildung erfolgt. Zu große Gruppen werden für die Durchführung der Kurse gebildet, bei denen eine so wichtige Kernkompetenz wie Gesprächsführung gelehrt und gelernt werden soll. Zu wenig muss man sich selbst als Teilnehmer einbringen, zu viel Geld wird damit von dritter Seite verdient und viel zu selten fallen ungeeignete Kandidaten bei der abschließenden Prüfung durch, weil sie vom Mantel der kollegialen Wohlgefälligkeit umhüllt werden und, wenn sie es tun sollten, dann erhält praktisch jeder seine Urkunde spätestens im zweiten Anlauf. Man fragt sich dann, welchen Zweck die Zusatzbezeichnung eigentlich erfüllen soll. Zwar fordert der 114. Deutsche Ärztetag in Aus-, Weiter- und Fortbildungen die Palliativmedizin noch stärker zu thematisieren, um die Ärzte besser auf die Versorgungssituation vorzubereiten, doch am Ende sollen ja immer die Patienten mit ihren Füßen über ihre Ärzte abstimmen. Viele palliativmedizinisch zu versorgende Patienten sind aber zu geschwächt und hilflos und häufig nicht in der Lage sich zu wehren. Das bedeutet, dass die Ärzte, die Palliativmedizin praktisch vollziehen, eine ganz besondere ethische Verpflichtung eingehen.

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