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Meinung: Partei der Heimatlosen

Die Nichtwähler als entscheidende Größe – die SPD bekommt es besonders zu spüren

Ist das nicht ein schönes Wort: Wahlberechtigte. Wir alle sind zur Wahl berechtigt, 63 Millionen an der Zahl. Wir haben das Recht, unsere Stimme nicht nur abzugeben, sondern zu verschenken, sie an jemanden zu vergeben, sie ihm zu leihen für vier Jahre oder fünf. Um danach wieder neu zu entdecken, ob er oder sie oder das Projekt es verdient haben. Welche Macht. Wir sind das Volk, der Souverän, können bestimmen, wer für uns die Amtsgeschäfte führt, treuhänderisch. Die das tun, schwören auch noch, dass sie von uns Schaden abwenden wollen.

Dann kommt die Wahl, zum Stadtparlament, zum Landtag, zum Bundestag oder zum Europäischen Parlament – und immer weniger gehen hin. Die Wahlbeteiligung sinkt, die Alarmsirenen schrillen. Wahlforscher halten das Volk für unbeteiligt, politikverdrossen, parteienmüde. Von der Demokratie frustriert. Nach den Wahlen in den Ländern und für Europa ist die Rede davon, dass alle Parteien in Wahrheit verloren hätten, auch wenn sich einzelne zum Sieger erklärten. Den Volksvertretern läuft das Volk davon, unaufhaltsam, sagt der Wahlforscher Manfred Güllner. Gäbe es Sitze für die Nichtwähler, Nicht-Sitze, könnten im Bundestag mehr als 100 Stühle weggeräumt werden. Das Europaparlament könnte verkleinert werden, die Landtage würden es auch.

Hier stoßen wir auf das nächste, ein wahres Wort: auf das von der „Partei der Nichtwähler“. Es kommt ein Stimmenpotenzial zusammen, das Wahlen entscheiden kann. „In den Kommunen sind die Nichtwähler flächendeckend zur stärksten politischen Kraft aufgerückt“, sagt der Städtetag in Baden-Württemberg. Dort ist kürzlich auch gewählt worden. So kann man es auch sehen, ohne Alarmismus: Die Wahlenthaltung wird zur ernst zu nehmenden Handlungsoption. Wo dem Wähler die Angebote nicht ausreichen, bleibt er bei der Wahl einfach zu Hause. Wo er die CDU nicht wählen kann, obwohl ihm der Kurs der SPD nicht gefällt, wählt er einfach nicht; was auch eine Wahl ist. Wer sagt, dass es doch egal ist, wer regiert, muss das nicht einmal negativ meinen, sagt Wahlforscher Matthias Jung: Es kann auch Zufriedenheit mit dem politischen System anzeigen.

Die Älteren haben immer gewählt, das Wahlrecht als Wahlpflicht angesehen, zumal nach dem Zweiten Weltkrieg, als hohe Wahlbeteiligung ein Nachweis dafür sein sollte, dass sich das Volk geläutert habe. Für die Jüngeren ist das kein Argument mehr. Heute müssen wir uns mit schwierigen Details der Bürgerversicherung und der Kopfpauschale befassen, das ist Politik, über die entschieden werden muss. Und wer da nicht wählen geht, der sendet auch ein gezieltes Signal an die Politiker – so lautet eines der Ergebnisse einer Umfrage im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung unter 1241 Wahlberechtigten. Das wichtigste Ergebnis aber ist, dass die Bürger zurzeit mehr an Politik interessiert sind als während der 90er Jahre. Und mehr als ein Drittel ist bereits bewusst nicht mehr zur Wahl gegangen. Das Politikbewusstsein emanzipiert sich: Statt wählen zu gehen, werden Unterschriften gesammelt, Bürgerinitiativen gegründet, Kundgebungen veranstaltet.

An was das erinnert? An die aktuellen Probleme der SPD. Große Teile ihrer bisherigen Wählerschaft betrachten den Sozialstaat noch aus der traditionalistischen Sicht, haben ihre Stimmen deshalb 1998 und 2002 den Sozialdemokraten gegeben: Der Staat sollte nicht abgebaut werden, sondern weiter regulieren und in den Markt hinein intervenieren, um Status und Teilhabe und Sicherheit zu garantieren. Angebot und Nachfrage aber gehen hier immer mehr auseinander – und so tun es auch die Wähler und die Partei des Kanzlers. Deren Wähler bleiben weg. Ihre Stimmen sind ja nur geliehen.

Immer mehr Wahlberechtigte reihen sich ein in die Partei der Nichtwähler, die Partei der Heimatlosen. Nur haben die keinen Treuhänder, der Schaden von ihnen abwenden kann.

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