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Patientenverfügungen: Des Menschen Wille

Wann sind Patientenverfügungen wirksam? Auch am Ende soll der Betroffene selbst entscheiden.

Reglos und schwer atmend, mit links hängendem Mundwinkel und schräg nach oben gewandtem Blick liegt Erna K. im Schockraum der Rettungsstelle. "Können Sie mich anschauen, Frau K., oder meine Hand drücken?" Weder ihr Blick noch ihre Hand antworten auf die Frage des Internisten Dr. S. Auch leichtes Kneifen in die Arme führt zu keiner Reaktion. Die Patientin ist wach, doch eine Kontaktaufnahme mit ihr ist nicht möglich. Die Verdachtsdiagnose des Arztes ist schnell gestellt: ausgedehnter Schlaganfall. Er legt eine Infusion an und platziert im Mundraum einen Güdel-Tubus, damit die oberen Atemwege frei bleiben.

Der Überleitungsbogen des Pflegeheims, das die Einweisung der 86-Jährigen veranlasst hatte, vermerkt diverse Vorerkrankungen: "Zustand nach Schlaganfall im Januar 2007 mit Halbseitenlähmung rechts, Diabetes mellitus, Morbus Parkinson, Herzinsuffizienz, chronische Bronchitis, Psoriasis, Druckgeschwür der linken Ferse." Unter "Besonderheiten" steht: "Patientin kann nicht sprechen. Kontakt sehr erschwert. Spuckt Medikamente oft aus. Blasen- und Darminkontinenz. Kann nicht mehr alleine aufstehen. Ohne Anhang."

Dr. S. telefoniert mit dem Pflegeheim. Reaktionslos hatte die Nachtschwester sie frühmorgens gefunden. In letzter Zeit habe sie mehr im Bett gelegen als im Sessel gesessen. Kontakt zu ihr habe man kaum herstellen können, man habe sie füttern müssen. Erhielt sie noch Besuch? Ja, selten kam eine alte Freundin, aber die blieb nie lange, weil es ja nichts zu reden gab. Angehörige? Ja, einen Neffen in der Eifel, aber den habe man hier nie gesehen. Ob es vielleicht eine Willensbekundung oder gar eine schriftliche Patientenverfügung gebe, will der Arzt wissen. Sicher nicht, davon wüssten wir etwas.

"Keine Schläuche, bitte"

Wohl in der weisen Voraussicht, dass Frau K. nicht mehr zurückkehren würde, hatte das Heim ihre persönlichen Habseligkeiten in eine Tasche gepackt und dem Krankentransport mitgegeben. Penibel untersucht Schwester D. deren Inhalt. Aus einer Plastikhülle, vollgestopft mit alten Fotos, kaum mehr lesbaren Quittungen und Zetteln, fördert sie ein Papier zutage: "Mein Wille. Keine Schläuche, bitte. 18. April 2007. Erna K." Mit zittriger Hand diagonal über die Seite geschrieben, sorgfältig gefaltet und mit einer Büroklammer an ihrem Personalausweis befestigt.

Ist dieses Schriftstück Ausdruck eines zu beachtenden Patientenwillens, gar eine rechtsverbindliche Patientenverfügung? Oder nicht doch nur ein Stück Papier, dem hinsichtlich ärztlicher Behandlungsentscheidungen keinerlei Bedeutung zukommt? Was meinte die alte Dame überhaupt mit "Schläuchen"? Ist auch ein Beatmungstubus ein Schlauch oder doch etwas anderes, ein Tubus eben? Und was ist mit einer PEG-Sonde? Für welche kritischen Krankheitssituationen wollte sie "keine Schläuche"?

Ein Labyrinth von Fragen und Interpretationsmöglichkeiten tut sich auf. Und doch, auch dieses auf den ersten Blick wenig aussagekräftige Schriftstück einer betagten Frau von offensichtlich einfacher, nichtsdestoweniger Respekt einfordernder Denkungsart, ist Ausdruck eines Willens, der keinesfalls übergangen werden darf. Ärztliche Pflicht ist es, alle erreichbaren Quellen ausfindig zu machen, um ihren Willen zu präzisieren und dann umzusetzen.

Leben erhalten kann Körperverletzung sein

Unsere Verfassung sagt nämlich, dass weder die ärztliche Indikation noch die Standesethik der Mediziner darüber entscheidet, ob eine ärztliche Behandlung stattzufinden hat oder nicht, sondern eine Entscheidung darüber allein dem betroffenen einzelnen Menschen obliegt - auch wenn es um die Erhaltung des eigenen Lebens geht. Allein er ist Träger des zentralen Grundrechts der Selbstbestimmung. Die Verfassung geht sogar so weit, dass sie auch "unvernünftige" Entscheidungen rechtfertigt, vorausgesetzt, sie werden im Zustand voller Einsichtsfähigkeit getroffen. 2005 erschütterte der Fall einer jungen Mutter aus Landau die Öffentlichkeit: Die Frau war nach der Geburt eines gesunden Kindes wegen einer Nachblutung "transfusionspflichtig" geworden, lehnte jedoch als Zeugin Jehovas eine Blutübertragung ab. Die Ärzte hatten dies zu respektieren. Die Frau starb. Die bayerische Justizministerin erklärte später, dass die Entscheidung der Frau verfassungsrechtlich gedeckt war.

Angesichts ihres hohen Alters und ihrer vielen Vorerkrankungen interpretierte Dr. S. Erna K.s Verfügung "Keine Schläuche, bitte" als ihren Willen, auf lebenserhaltende Maßnahmen zu verzichten: Er beließ zwar den zuvor gelegten "Schlauch", einen Venenkatheter, weil über ihn Medikamente wegen mehrerer im Rahmen des Schlaganfalls aufgetretener Krampfanfälle infundiert werden mussten. Er verzichtete aber auf die Einleitung lebensverlängernder Maßnahmen.

Obwohl es mühevoll, aufwendig und oftmals auch unergiebig sein kann, den Willen eines Menschen, mit dem man nicht mehr kommunizieren kann, zu ermitteln, darf nicht nach der in der Ärzteschaft immer noch verbreiteten Devise verfahren werden: "Ich (als Arzt) tue alles, was ich kann, um das Leben zu erhalten, dann bin ich immer auf der richtigen Seite." Diese Art der (Defensiv-)Medizin, die eher das Wohl des Arztes, nämlich seine rechtliche Absicherung, als das des Patienten im Auge hat, ist nicht allein ethisch fragwürdig. Sie kann, zumal wenn ein erklärter Patientenwille vorliegt, nach höchstrichterlicher Rechtsprechung für den Arzt fatale Folgen haben: eine Anklage wegen Körperverletzung.

Aktive Sterbehilfe bleibt verboten

Die Unwissenheit nicht allein der Ärzteschaft, vielmehr auch von Richtern und Staatsanwälten in diesen Fragen ist beträchtlich: Eine Studie ergab, dass ein Drittel aller Ärzte die zulässige indirekte Sterbehilfe für strafbewehrt hält und 60 Prozent die Folgen des Abbruchs lebenserhaltender Maßnahmen fürchten, selbst wenn der Patient dies wünscht. 30 Prozent der Richter schätzen die Rechtslage falsch ein und 10 Prozent der Richter ignorieren die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs.

Der hat in Gestalt zahlreicher Urteile tatsächlich alle wesentlichen Fragen zur Medizin am Lebensende beantwortet, sodass das Votum der Bundesärztekammer, ein Gesetz zur Patientenverfügung sei überflüssig, auf den ersten Blick plausibel erscheint. Die Kammer übersieht jedoch, dass es sich hier allein um "Richterrecht" handelt, das keinen Richter bindet, solange Inhalte und Form einer Patientenverfügung nicht in einem Gesetz niedergelegt sind.

Diesem Zustand soll nun ein Rahmengesetz zur Patientenverfügung abhelfen. Dem Bundestag liegen drei interfraktionelle Gesetzentwürfe zur Entscheidung vor. Gemeinsam ist allen Entwürfen die Ablehnung der Tötung auf Verlangen (aktive Sterbehilfe), die jederzeitige Widerrufsmöglichkeit einer Patientenverfügung und die Forderung, dass sie frei von Zwang und Druck entstanden ist.

Die Entwürfe unterschieden sich erheblich

Nach dem von den Abgeordneten Stünker, Kauch und Jochimsen erarbeiteten und von 205 Abgeordneten mitgetragenen Entwurf ist die wichtigste Voraussetzung der Verbindlichkeit der Patientenverfügung ihre schriftliche Form. Liegt sie vor, gilt der Patientenwille auch ohne vorausgegangene Beratung uneingeschränkt, insbesondere unabhängig von Art und Stadium der Erkrankung. Der in der Verfügung niedergelegte Wille muss auf die aktuelle Behandlungssituation zutreffen. Fehlt eine Verfügung, so ist wie bisher der mutmaßliche Wille des Patienten im Dialog aller Beteiligten zu ermitteln. Willigt der Betreuer in lebenserhaltende Maßnahmen nicht ein und erzielen Arzt und Betreuer keine Einigkeit, entscheidet das Vormundschaftsgericht.

Die Gruppe um die Abgeordneten Zöller und Faust will nur das absolut Unerlässliche gesetzlich regeln. Im Zentrum steht die sorgfältige Ermittlung des Patientenwohls durch Ärzte und rechtliche Vertreter des Patienten. Sowohl der schriftlich oder mündlich erklärte wie auch der mutmaßliche Wille werden als gleichrangig und verbindlich angesehen. Zudem muss auch bei Vorliegen einer Patientenverfügung eine individuelle Ermittlung des Patientenwillens in der aktuellen Situation erfolgen (zum Beispiel eventuelle Berücksichtigung neuer medizinischer Behandlungsmöglichkeiten, die der Patient beim Abfassen der Verfügung nicht kennen konnte). Die Verfügung gilt auch hier unabhängig von Art und Stadium der Erkrankung. Sind sich Arzt und Betreuer nicht einig, ist das Vormundschaftsgericht einzuschalten.

Der sogenannte "Bosbach-Entwurf" weicht von den beiden vorgenannten in mehrerer Hinsicht erheblich ab. Der Entwurf unterscheidet zwischen Patientenverfügungen mit und ohne ärztliche Beratung: In einer Patientenverfügung kann der Abbruch einer lebenserhaltenden Behandlung nur verbindlich und ohne Reichweitenbegrenzung angeordnet werden, wenn eine umfassende ärztliche und rechtliche Beratung vorausgegangen, notariell dokumentiert und beglaubigt ist. Ohne eine solche Beratung ist eine Patientenverfügung nur wirksam, wenn eine unheilbare, tödlich verlaufende Erkrankung oder eine Situation vorliegt, in der der Patient mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit trotz Ausschöpfung aller medizinischen Möglichkeiten das Bewusstsein niemals wiedererlangen wird. Zudem ist die Genehmigung des Vormundschaftsgerichts immer dann erforderlich, wenn eine lebenserhaltende Behandlung ohne Vorliegen einer unheilbaren, tödlich verlaufenden Erkrankung oder aufgrund des mutmaßlichen Willens abgebrochen werden soll.

Den Willen zu bestimmen ist nicht einfach

Selbstbestimmung im Dialog - von dieser Maxime muss das Rahmengesetz zur Patientenverfügung getragen sein. Konkret bedeutet dies: Erstens, ein eindeutiger und die Situation treffender Patientenwille ist nach gewissenhafter Prüfung als verbindlich anzusehen und umzusetzen, unabhängig von Art und Stadium der Erkrankung. Zweitens, es ist zu respektieren, dass mit einer Patientenverfügung Menschen im Voraus auch gezielt auf letzte Chancen verzichten und sich lieber ihrer Selbstbindung als einem fremden Urteil unterwerfen, wie es auch zu akzeptieren ist, dass sie keinerlei Festlegungen treffen, im Vertrauen auf ein Schicksal, das alles in ihrem Sinne fügen wird. Drittens, ärztliche Beratung begründet, ebenso wie der Anspruch auf bestmögliche palliativmedizinische Versorgung, ein positives Leistungsrecht, durch das nicht zuletzt die Bedeutung der ärztlichen Fürsorge im Sterbeprozess gewürdigt und gestärkt wird. Beratung muss ein Recht sein, darf aber niemals zur Pflicht werden mit der Folge, dass eine ohne Beratung verfasste Patientenverfügung als weniger verbindlich eingestuft würde. Demnach wäre unter den zur Abstimmung stehenden Entwürfen ein "Fusionsentwurf" der ohnehin nah beieinander liegenden Entwürfe der Abgeordnetengruppen um Stünker und um Zöller zu favorisieren.

Der "Bosbach-Entwurf" hingegen bedeutet nicht Stärkung der Selbstbestimmung, sondern ihre Beschneidung. Unter seinen Bedingungen wird die Einschaltung des Vormundschaftsgerichts die Regel und nicht die Ausnahme sein, weil der Entwurf dem ärztlichen Urteil und dem gefundenen Konsens zwischen Arzt und Betreuer misstraut. Dies ist aus ärztlicher Sicht unerträglich und unakzeptabel, weil es der vielfach beklagten Verrechtlichung des Sterbens Vorschub leistet und das Leiden Sterbender verlängert und vertieft. Allzu oft jedoch gibt es in unserer zusehends vereinsamenden Gesellschaft dringliche ärztliche Entscheidungssituationen, in denen bei einem einwilligungsunfähigen, weil bewusstlosen Patienten weder auf eine Patientenverfügung noch auf einen mutmaßlichen Willen zurückgegriffen werden kann.

Jürgen N., ein 45-jähriger Patient, wird über den Rettungswagen bewusstlos und mit Atemversagen in die Notaufnahme des Klinikums Am Urban eingeliefert. Amyotrophe Lateralsklerose, foudroyanter Verlauf, sagt der Aufnahmecomputer. Verwahrloste Wohnung, zugezogene Vorhänge, überall Bierflaschen, der Nachbar hätte alarmiert, berichten die Rettungskräfte. Rückruf beim Nachbarn und beim Hausarzt: Fehlanzeige, Samstagabend. In der Tasche des Patienten die Adresse eines Pflegedienstes. Auch der ist nicht erreichbar. Jürgen N. ist in desolater Verfassung und hat offensichtlich das Terminalstadium seiner Erkrankung, die nicht heilbar ist, erreicht. Er wiegt vielleicht noch 45 Kilo. Er hat sich durch das Atemversagen selbst narkotisiert, atmet flach und ist nicht erweckbar; keine Lungenentzündung im Lungenbild, in der Luftröhre kein die Atmung behindernder Schleim, der Atemalkoholtest ist negativ. Was tun? Künstliche Beatmung oder palliative Morphingabe, die ihm helfen soll, friedlich zu sterben? Dr. S. schaut ihn lange an: Liegt er im Sterben? Innerlich bejaht er die Frage und entscheidet sich für eine Morphininjektion unter die Haut. Zwei Stunden später stirbt Jürgen N. an zentralem Atemversagen. Ob das Vorgehen des Arztes seinem Willen entsprach? Vieles spricht dafür - doch wissen werden wir es nie.

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