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Meinung: Pilotenfehler – in der Politik

Der Konflikt im Kaukasus verschwindet nicht, nur weil der Westen ihn verdrängt

Anschlag oder Unfall? Gewissheit über die Ursachen der beiden Flugzeugabstürze in Südrussland gab es zunächst nicht. Aber wieder ist es eine Katastrophe, die die deutschen Blicke auf Russland lenkt – und auf den fast schon in Vergessenheit geratenen Konflikt im Kaukasus.

Auch wenn der Geheimdienst betont, es gebe vorerst keine Beweise für einen Anschlag, spricht einiges dafür, dass es sich doch um einen Terrorakt handelt: Die Maschinen starteten nacheinander von demselben Moskauer Flughafen, verschwanden beinahe zeitgleich von den Radarschirmen – und eine der beiden Maschinen war nach Sotschi unterwegs, wo Präsident Wladimir Putin gerade seinen Urlaub verbrachte. Und die Geheimdienstler? Sie sprachen in einer ersten Stellungnahme von Pilotenfehlern, technischem Versagen, schlechtem Flugbenzin. Von Terror kein Wort. Doch wie wahrscheinlich ist es, dass zwei Piloten nahezu zeitgleich einen tödlichen Fehler machen?

Die Reaktion des Geheimdienstes hat vor allem eines gezeigt: Der sonst übliche Reflex blieb bei diesem Anschlag in Russland aus. Kein Regierungsvertreter streute etwas von einer „tschetschenischen Spur“. Dabei wäre diese Theorie doch gerade jetzt, wenige Tage vor der umstrittenen Präsidentenwahl in der Kaukasusrepublik, keineswegs abwegig. Gefechte zwischen tschetschenischen Separatisten und russischen Truppen sind gerade erst mit neuer Härte aufgeflammt. Und auch der Terror hat keineswegs nachgelassen: Die Wahl am Sonntag war notwendig geworden, weil im Mai der tschetschenische Präsident Achmad Kadyrow bei einem Anschlag getötet worden war.

Noch wissen wir nicht genau, ob auch die Flugzeugabstürze auf einen Terroakt zurückgehen. Eines jedoch ist sicher: Terroristen, die mitten in Russland Anschläge verüben – diese Nachricht käme für den Kreml zur Unzeit. Würde sie doch die Aufmerksamkeit der (Welt-)Öffentlichkeit auf eine Region lenken, über deren Probleme Moskau Stillschweigen bewahrt, weil es dort nach offizieller Lesart keine wirklichen Probleme mehr gibt. In Tschetschenien habe längst der politische Prozess begonnen, heißt es aus Moskau. Das Wort „Krieg“ kommt in diesen Erklärungen nicht vor. Friedensverhandlungen, wie sie auch russische Menschenrechtler fordern, sind für Moskau kein Thema. Verbrechen, die Soldaten an Zivilisten begehen, werden gar nicht oder nur schleppend untersucht. Bei der Wahl am Sonntag wird aller Voraussicht nach der Favorit des Kremls gewinnen, mit dem sich Putin gerade medienwirksam vor den Kameras zeigte. Viele Tschetschenen fühlen sich wieder einmal von der Zentralregierung in Moskau betrogen.

Und der Konflikt schwelt weiter. In Tschetschenien ist eine ganze Generation herangewachsen, die nichts als den Krieg kennt. In dieser Generation ohne Hoffnung finden die Terroristen neuen Zulauf. Viele von ihnen sind bereit, den Terror ins russische Kernland zu tragen, so wie im Februar bei dem Anschlag in der Moskauer Metro. Zudem droht sich der Konflikt auf die Nachbarrepubliken und damit den gesamten Nordkaukasus auszuweiten – mit unabsehbaren Folgen.

Und der Westen? Europas Regierungen haben ihren Blick längst vom Kaukasus abgewandt. Der russische Präsident muss kaum befürchten, dass er sich auf seinen Staatsbesuchen in Europa unangenehme Fragen gefallen lassen muss. Doch so lange Putin – und mit ihm Schröder, Berlusconi und Chirac – so tun, als gäbe es in Tschetschenien kein Problem, wird es in der Kaukasusrepublik keinen wirklichen Frieden geben.

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