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Meinung: Polen A hilft Deutschland B

In Ostdeutschland wird protestiert – nicht aber jenseits der Grenze. Eine Spurensuche

Hier gibt mal nicht der Westen den Ton vor. Manche im Osten vermerken das bereits mit Stolz. In Duisburg, Frankfurt am Main, Hamburg und München haben sie sich nur angeschlossen. Der wahre Protest geht von Leipzig, Chemnitz, Dresden, Jena, Rostock und Schwerin aus, immer wieder montags.

Doch so ein gesamtdeutscher Blick – nur unter umgekehrten Vorzeichen: Ost führt West – geht an der Substanz der neuen Montagsdemonstrationen vorbei. Sie sind nicht in erster Linie ein landesweites Aufbegehren gegen Sozialabbau. Das könnten sie zwar sein, jeden arbeitswilligen Menschen, der nach einem Jahr keinen neuen Job findet und von Arbeitslosenhilfe auf Sozialhilfe gesetzt wird, trifft das nicht nur finanziell, sondern in seinem Selbstwertgefühl.

In den neuen Ländern aber haben die Proteste eine spezifische Note, wie schon der aus dem Wendejahr übernommene Name signalisiert. Die Menschen fühlen sich um die Hoffnungen vom Herbst 1989 betrogen – und dieser Aspekt trennt sie von den Westdeutschen mindestens so sehr wie die ökonomischen Hinweise: Dass der Osten viel flächendeckender von Langzeitarbeitslosigkeit betroffen ist und dass die Ostdeutschen weniger Gelegenheit hatten, etwas anzusparen für Notzeiten.

Weshalb es lohnt, noch weiter nach Osten zu schauen, nach Polen, Tschechien und Ungarn, zu den Schicksalsgenossen der Ostdeutschen in den Vor- und Nachwendejahren. Dort gibt es keine vergleichbaren neuen Protestrituale, obwohl die Nachbarn bis heute weit mehr mit den neuen Bundesländern gemeinsam haben als den Deutschen bewusst ist.

Auch diese Staaten sind geteilt in einen vergleichsweise prosperierenden Westen und einen Osten mit hoher struktureller Massenarbeitslosigkeit; in Polen nennt man die Gegenden um die dynamischen Metropolen Posen, Breslau, Danzig „Polen A“ und den landwirtschaftlich geprägten Osten, wo der Lebensstandard nicht einmal halb so hoch ist, „Polen B“. In Budapest und Györ, wo zum Beispiel Audi produziert, sind die Löhne um ein Vielfaches höher (und die Arbeitslosenquoten weit niedriger) als in Nordostungarn, wo die veraltete Stahlindustrie zusammengebrochen ist und die Grenze zur Ukraine kaum Chancen bietet.

Vieles ist ähnlich wie in Deutschland: der Ost-West-Gegensatz, die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, der Streit der Parteien, ob mehr Marktliberalismus der Wirtschaft und dem Arbeitsmarkt auf die Beine hilft oder Sozialabbau die Misere noch verschärft. Auch die nahen Wahlen machen keinen entscheidenden Unterschied. Polen ist ebenfalls im Wahlkampf. Der Grad der sozialen Not ist bei den östlichen Nachbarn, die kein vergleichbares soziales Netz finanzieren können, ungleich größer als in den neuen Ländern. Und an Protesttraditionen aus der Zeit des Kampfes gegen die kommunistische Diktatur sind Polen, Tschechen und Ungarn nicht ärmer, sondern reicher als die Ostdeutschen. Warum also keine Proteste wie montags in Ostdeutschland?

Es ist ein anderes Merkmal, das das Volk in der früheren DDR gleichermaßen von den Westdeutschen wie den östlichen Nachbarn trennt: das Gefühl, Objekt und nicht Subjekt all der Veränderungen zu sein. Ob Aufbau Ost oder Sozialabbau, die Regeln machen Regierungen und Parlamente, die von Westdeutschen dominiert sind. In Polen, Tschechien und Ungarn mögen die Bürger mit den Gesetzen hadern, aber es lässt sich nicht leugnen, dass es Menschen aus ihrer Mitte sind, die sie machen. Selbst wenn die einen vor ’89 auf der Seite des Regimes und die anderen auf der der Opposition gestanden haben, schafft das nicht eine solche gefühlte Fremdheit wie zwischen Wessi und Ossi.

Es ist wahr, erst die Einheit hat den Ostdeutschen das soziale Netz beschert, das sie bis heute nicht aus eigener Kraft finanzieren können; nicht einmal die reduzierten Standards, gegen die sie jetzt Sturm laufen. Aber dieses höhere Niveau im Vergleich zu Polen, Tschechien und Ungarn ist kein Trost für den Schmerz, nicht selbst der Maßstab für das sein zu dürfen, was geschieht. Hartz IV kippen werden die neuen Montagsdemos nicht. Sie können aber zweierlei erreichen: Dass die Marschierer sich selbst das Gefühl geben, Subjekt ihres Schicksals zu sein und Aufmerksamkeit auf die Besonderheit der Misere im Osten lenken.

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