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Meinung: „Polen und Deutsche ergreifen die Initiative“

Wie der Streit um das Zentrum gegen Vertreibungen beigelegt werden kann

Die 2000 gegründete „KopernikusGruppe“ deutscher und polnischer Experten nimmt regelmäßig zu bilateralen Streitfragen Stellung und schlägt Lösungen vor, zum Beispiel zu den im Krieg verlagerten Kulturgütern. In ihrem 6. Arbeitspapier fordert sie die Präsidenten Deutschlands und Polens auf, die Initiative zur Errichtung eines Europäischen Zentrums gegen Vertreibungen zu übernehmen:

Der Stil des Streits um ein „Zentrum gegen Vertreibungen“ ist beunruhigend. Deutsche und Polen hatten im letzten Jahrzehnt einen Dialog um schwierige Kapitel der Vergangenheit entwickelt, der für andere Völker beispielgebend war. (…) In der aktuellen Debatte um ein „Zentrum gegen Vertreibungen“ wurden die Erfahrungen und Chancen der deutsch-polnischen Annäherung nicht genutzt. Es kam stattdessen zu einem Rückfall in Denkmuster und Stereotype, die als längst überwunden galten. In Polen wuchs die Befürchtung, die Deutschen strebten ein neues Geschichtsbild an, in dem sie sich vor allem als ein Volk der Opfer darstellen würden, und bereiteten damit auch Ansprüche auf Entschädigung für verlorenes Eigentum in den früheren deutschen Ostgebieten vor. In Deutschland entstand der Eindruck, in Polen wolle man sich nicht mit dem schmerzlichen Komplex der Vertreibungen beschäftigen und darüber hinaus den Deutschen verbieten, ihrer Opfer zu gedenken. Diese Reaktionen ignorieren, dass in Polen die Vertreibung der Deutschen schon lange kein Tabuthema mehr ist und dass in Deutschland Restitutionsansprüche Vertriebener nur in politischen Randgruppen erhoben werden. (...)

In der verfahrenen Lage haben die Präsidenten Aleksander Kwasniewski und Johannes Rau mit ihrer gemeinsamen Erklärung vom 29. Oktober 2003 in Danzig einen Ausweg gewiesen. Darin betonen sie drei Prinzipien: Jede Nation hat das Recht, ihrer Opfer zu gedenken und sie zu betrauern. Diese Erinnerung und Trauer darf aber nicht dazu missbraucht werden, die Völker Europas erneut zu spalten; es darf auch keinen Raum für gegenseitiges Aufrechnen und Entschädigungsansprüche mehr geben. Die Europäer sollen Umsiedlungen, Flucht und Vertreibungen im 20. Jahrhundert in Europa gemeinsam neu bewerten und Formen und Strukturen für einen europäischen Dialog finden.

Die Kopernikus-Gruppe schlägt vor:

1. Polen und Deutsche ergreifen die Initiative für diesen europäischen Dialog. Die beiden Völker sind besonders betroffen, haben Ursachen und Wirkungen bereits gemeinsam tief greifend erforscht und Ansätze für eine gemeinsame Erinnerungskultur geschaffen. Andere Völker sind aufgerufen, sich an einem solchen Dialog zu beteiligen. Die Komplexität der Vertreibungsschicksale und die Erfahrungen mit den kontroversen Diskursen in so vielen Ländern (...) zeigen jedoch: Man kann wohl nicht erwarten, dass so viele Gesellschaften sich in nächster Zukunft auf ein gemeinsames Projekt verständigen werden. Eine rasche Initiative ist aber notwendig, damit der Streit nicht weiter die Völker trennt und der Dialog endlich wieder eine Chance bekommt.

2. Die Präsidenten Deutschlands und Polens berufen einen internationalen „Rat der Weisen“: Persönlichkeiten mit politischer und moralischer Autorität, die für diesen über das Bilaterale hinausweisenden europäischen Ansatz stehen. Dieser Rat der Weisen formuliert Empfehlungen für Leitlinien und Organisationsform eines „Europäischen Zentrums gegen Vertreibungen“ (EZgV).

3. In den Organen des EZgV haben anerkannte Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Gesellschaft und den betroffenen Gruppen einen Sitz. Vertreter der Vertriebenen aus den Ländern, die diese Initiative unterstützen, sollen beteiligt werden.

4. Dabei sollen folgende Prinzipien berücksichtigt werden: Hauptanliegen ist die Entwicklung einer Erinnerung im Geiste der Verständigung unter den Völkern Europas. Die wissenschaftlich fundierte Darstellung der Vertreibungen in ihren Ursachen und Wirkungszusammenhängen mit Ausstellungscharakter wird verbunden mit zukunftsorientierter, pädagogischer Arbeit. Das Ziel des gemeinsamen europäischen Dialogs und Gedenkens lässt sich nicht auf einen zentralen Ort beschränken. Das EZgV kann man auch als Netz verschiedener miteinander verbundener Standorte verstehen. Hauptort könnte Görlitz/Zgorzelec sein. Vertreibung ist das Schicksal der Bevölkerung in beiden Teilen der Stadt. (...) An anderen symbolträchtigen Orten in Europa entstehen Dependancen, so dass sich nach und nach ein europäisches Netzwerk bildet, das offen bleibt für weitere Staaten und Erinnerungsorte. In Polen war bereits Breslau im Gespräch, in Deutschland Berlin. In Berlin könnte im institutionellen Rahmen des Deutschen Historischen Museums ein Ort für die Darstellung der Geschichte der Deutschen in den historischen deutschen Provinzen, in Ostmittel- und Südosteuropa sowie von Flucht, Vertreibung und Integration in der deutschen Nachkriegsgesellschaft und für das Gedenken daran entstehen.

Bei der Auswahl von Orten ist neben ihrer symbolischen Bedeutung zu berücksichtigen, dass in größeren und touristischen Städten mehr Besucher eine Dependance eines EZgV nutzen. An den dezentralen Orten soll neben der alle Orte verbindenden und verpflichtenden Aufgabe, die europäischen Vertreibungen in ihren Ursachen und Wirkungszusammenhängen zu erklären, die jeweilige nationale, regionale und lokale Vertreibungsgeschichte breiter dargestellt werden.

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