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Meinung: Politischer Schlussstrich

Die Krankenversicherung für alle ist wichtiger: Warum es im Interesse des Landes, dass Präsident Obama die Bush-Vergangenheit ruhen lässt

Muss man die Vergangenheit aufarbeiten, um die Zukunft zu gewinnen? Die korrekte deutsche Antwort ist eindeutig: Ja. Die Wahrheit komme am Ende doch heraus, und die Summe aus schlimmer Tat plus Vertuschungsversuch mache alles nur noch schlimmer. Nun ertönt aus den USA aber die umgekehrte Argumentation. Lasst die möglichen Gesetzesverstöße der Bush-Ära ruhen! Eine Abrechnung würde die Zukunftsprojekte behindern. Es trägt zur Verstörung bei, dass der Appell aus dem Mund eines Mannes kommt, der in Deutschland als moralischer Sieger gilt, Barack Obama.

Vor allem zwei Aspekte trennen die Debatten in Deutschland und Amerika. Der deutsche Kontext ist geprägt von den Megaverbrechen zweier Diktaturen. Ein Schlussstrich verbietet sich im Angesicht des Holocaust und systematischer politischer Verfolgung bis zur Vernichtung. In den USA geht es um Vorwürfe geringerer Dimension: Körperliche Misshandlungen, ungerechtfertigte Gefangenschaft, Verstoß gegen die Informations- und Kontrollrechte des Parlaments sowie generell unverhältnismäßige Maßnahmen zur Terrorabwehr. Da fällt dann, zweitens, der ohnehin für Amerika typische Pragmatismus leichter, die Vergangenheit ruhen zu lassen und sich den drängenden Zukunftsfragen zuzuwenden. Deutsche sehnen sich stärker nach festen Prinzipien, generell und wegen der Geschichte.

Doch lässt sich ein Schlussstrich unter die Bush-Ära überhaupt rechtfertigen? Für Anhänger der Verantwortungsethik schon. Aus Obamas Sicht ist diese Entscheidung nicht nur machtpolitisch, sondern auch moralisch richtig. Er möchte, zum Beispiel, 45 Millionen nicht versicherten Bürgern zu einer Krankenversicherung verhelfen. Das Projekt ist umstritten, eine Mehrheit dafür fraglich. Er kalkuliert, wenn jetzt die Abrechnung mit Bush in den Vordergrund rückt, wird das die Krankenversicherung und andere Projekte blockieren. Selbst moderate Republikaner wären nicht mehr zur Kooperation bereit. Zugleich ist es höchst fraglich, ob Strafverfahren gegen Bush, Cheney und ihre Helfer je zu einer Verurteilung führen.

Was ist wichtiger: die Genugtuung, wenigstens einzelne Bush- Leute bestraft zu sehen – oder die Krankenversicherung, bessere Bildungschancen für Arme und das Ende des Irakkriegs?

Gesinnungsethiker würden die Prämisse erst gar nicht akzeptieren. Es müsse doch beides möglich sein: Aufarbeitung und Zukunftsprojekte. Beides gehöre zusammen, eine Bestrafung der Bush-Helfer diene auch der Abschreckung. Sie trage dazu bei, dass sich der Rechtsbruch nicht wiederholt.

Für die aktuelle Lage in Obamas Amerika ist Schlussstrich ein viel zu großes Wort. Die Medien sorgen schon dafür, dass nichts so schnell vergessen wird. Anklagen gegen die Vordenker und Täter der Terrorabwehr à la Bush wird es wohl nicht geben. Doch wer die Nöte armer Amerikaner sieht, wird sich vielleicht mit dem Gedanken anfreunden: Die Krankenversicherung für alle ist vermutlich wichtiger, politisch und moralisch.

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