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Meinung: Polizei oder Krieg – das ist die Frage

Der Staat will unsere Fingerabdrücke. Wir sollten sie ihm geben Von Sibylle Tönnies

Wir alten Linken haben uns doch schon genug wegnehmen lassen: Wir haben unsere Haltung zum Kapital gelockert, wir verachten den Konsum nicht mehr, sondern betrachten seine Pflege als Kulturelement, und wir denken angesichts der Erderwärmung neu über die Vorzüge der Atomenergie nach. Aber alles muss irgendwo seine Grenze haben. Irgendwann muss man Halt sagen, irgendwann geht es an die Identität.

Identifizieren lassen wir uns nicht! Jedenfalls nicht mehr als bisher. Verzichten wir doch schon darauf, auf unseren Passfotos sympathisch zu lächeln; blicken wir doch schon gutwillig in die neuen Kameras. Aber mehr geben wir nicht her. Unsere Fingerabdrücke nicht!

Diejenigen, die so denken – welche Nische wollen sie sich offenhalten? Welchem praktischen Ernstfall wollen sie vorbeugen? Etwa dem Fall, dass sie Verbrecher werden und leichter entwischen? Nein, das nicht. Aber … Wenn man sehr inquisitorisch nachfragt, geben sie eine heroische Vision preis. Man stelle sich vor: Der Staat ist totalitaristisch entartet und sie sind heimliche Widerstandskämpfer. Oder ethnisch verfolgt. Sie sind, sagen wir mal, Walter Benjamin oder Hannah Arendt auf der Flucht. Für diesen Fall fühlen sie sich besser mit der Aussicht, ihre registrierten Gesichtszüge so verziehen zu können, dass man sie bei einer Kontrolle nicht erkennt und in Ermangelung von Fingerabdrücken laufen lässt.

Bei Lichte betrachtet ist diese Konstellation eher unwahrscheinlich. Den bösen Folgen einer totalitären Fehlentwicklung wird man durch vorbeugende Informationsverweigerungen nicht Einhalt gebieten können.

In Wirklichkeit geht es nicht um einen praktischen Effekt, sondern um eine Symbolik: die „Freiheit“. Ihre letzte Schlacht haben die Linken und Liberalen gegen das Volkszählungsgesetz geführt, als sie dem Staat nicht verraten wollten, wie viele Quadratmeter sie bewohnen und ob sie Zentralheizung haben. Er hat es dann doch rausgekriegt, und niemand hat dabei Schaden genommen.

Jetzt verlangt der Staat nicht nach dem gläsernen, sondern dem identifizierten Bürger. Wir sollten ihn dabei unterstützen, wir alten Linken und Liberalen. Aus gutem Grund hat noch nie jemand dem Staat streitig gemacht, zu wissen, wer wer ist. Anders kann er seine Aufgaben ja gar nicht erfüllen. Alle Rechte und Pflichten des Bürgers gegenüber dem Staat hängen an der Eindeutigkeit der individuellen Identität. Nicht nur die strafrechtliche Verantwortung, sondern auch Schulpflicht, Wehrpflicht, Kindergeld, Sozialhilfe – alle Hin-und-her-Beziehungen zwischen Staat und Bürger sind an dessen Identität geknüpft. Es wäre absurd, den anonymen Bürger zu fordern. Absurd ist es deshalb auch, die Möglichkeit des staatlichen Irrtums als Bestandteil der bürgerlichen Freiheit anzusehen.

Diese Haltung ist unreif. Sie ist nicht auf der Höhe der Zeit. Polizeiliches Handeln muss insgesamt neu bewertet werden. Da die Herstellung von Sicherheit und Ordnung mittlerweile eine globale Aufgabe ist, steht die Welt vor der prinzipiellen Frage, auf welche Weise sie erfüllt werden soll: polizeilich oder militärisch? Innerhalb dieser Alternative liegen alle Vorzüge bei der Polizei. Sie ist die individuell und chirurgisch vorgehende Instanz und trotz des möglichen Missbrauchs ihrer Macht dem Militärischen bei weitem vorzuziehen.

Nicht Untätigkeit, sondern Krieg ist im Kampf gegen den Terrorismus die Alternative zu polizeilichem Handeln. Wendet man sich gegen die energische Verbesserung der polizeilichen Überwachungsmöglichkeiten, so optiert man – ob man will oder nicht – für militärische Lösungen. Mit Flächenbombardement wurde in Afghanistan Jagd auf Osama bin Ladin gemacht; das Angebot (fast) aller Regierungen der Welt, geheimpolizeiliche Hilfe zu geben, wurde von den USA ausgeschlagen. Nicht Polizei oder Freiheit, sondern Polizei oder Krieg – das ist jetzt die Frage.

Die Autorin ist Juristin und unterrichtet an der Uni Potsdam.

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