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PORTRÄT KARL SCHLÖGEL, HISTORIKER: "Europa ist nicht an der Oder zu Ende"

Karl Schlögel, Träger des Leipziger Buchpreises, ist längst ein renommierter Autor - und ein origineller Kopf. In immer neuen Anläufen hat er die Welt des Ostens aus dem Schutt des 20. Jahrhunderts ausgegraben.

Der Träger des Leipziger Buchpreises ist kein Risiko: Karl Schlögel ist längst ein renommierter Autor, mit Preisen geehrt, und auch das Buch, das den Anlass für die Auszeichnung, die ihm am Mittwoch überreicht wird, ist von der Kritik einhellig gelobt worden. Die einzige Gefahr besteht darin, dass in so viel Anerkennung untergeht, wie ungewöhnlich und hoch persönlich die Furche ist, die der Professor an der Frankfurter Viadrina seit drei Jahrzehnten durch die literarische und wissenschaftliche Landschaft zieht. Und was für ein origineller Kopf er ist.

Schlögel wurde 1948 in einem schwäbischem Dorf geboren, unberührt von den Regionen und Schicksalen, denen er sich als Wissenschaftler und Publizist widmet. Der scharfsinnige Analytiker des Kommunismus hat als Mitglied maoistischer Splittergruppen die linksradikalen Möglichkeiten, die vor allem West-Berlin in den 70er Jahren bot, ausgekostet. Der Kulturhistoriker, der er wurde, fand zunächst seinen Platz im tiefen Kreuzberg. „Kreuzberg – Bürgerkrieg im Ohr“ war der Titel des Essays, für den er 1986 den Preis des Tagesspiegels bekam.

Da hatte er schon mit zwei Büchern seine Klaue als Autor und Gelehrter gezeigt: „Moskau lesen“, 1984 erschienen, eine Mitgift seines Moskauer Studiums, faszinierte mit einem physiognomisch gezeichneten Bild dieser Stadt; „Die Mitte liegt ostwärts“ öffnete den Blick auf Ost-Mitteleuropa – und gehörte damit schon irgendwie ins Vorfeld der großen Veränderungen des Jahres 1989.

Seither hat Schlögel in immer neuen Anläufen die Welt des Ostens aus dem Schutt des 20. Jahrhunderts ausgegraben, ihre Städte nachgezeichnet, ihren Geist beschworen. Aus Anschauung und methodischer Durchdringung hat er eine eigene Betrachtungs- und Erkenntnisweise entwickelt, die sich auf die historischen Räume richtet. „Im Raume lesen wir die Zeit: Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik“ heißt die 2003 erschienene Programmschrift.

Doch das alles lebt in erster Linie von Schlögels Wissbegierde, seiner Leidenschaft der Wahrnehmung – und seiner stupenden Sprachkraft, die Ergebnisse seiner Streifzüge dem Leser mitzuteilen. Das hat eine Fülle von Büchern und Essays hervorgebracht: Wiederentdeckung einer Welt, Spurensicherung, politische Vision. Und ein Wurf wie das preisgekrönte „Terror und Traum“, das in der Nacherzählung eines Jahres, 1937, die historische Tragödie Russland vergegenwärtigt. Hermann Rudolph

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