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POSITIONEN: "Das wird hier so wegverwaltet"

Henryk M. Broder über einen ganz alltäglichen Taschenraub in Berlin. Die Diebe gehen professionell ans Werk, die Polizei mit erstaunlicher Effizienz - zunächst.

Es war kurz nach Mitternacht, die ganze Aktion dauerte höchstens eine halbe Minute. Drei junge Männer betraten das Café in der Oranienstraße, einer machte sich am Getränkeschrank zu schaffen, zwei sorgten für Ablenkung. Kaum hatten sie den Laden verlassen, merkte ich, dass meine Tasche, die ich über die Stuhllehne gehängt hatte, weg war. Der Besitzer des Cafés sagte „Das waren wieder die Araber“ und rief die Polizei. Nach drei Minuten war ein Streifenwagen da, die Beamten nahmen meine Personalien auf und drückten mir ein DIN-A4-Blatt in die Hand – mit „Vorgangsnummer“ und den Adressen der „Opferschutzbeauftragten“.

Dann machten sie sich mit Hilfe des türkischen Kaffeehausbesitzers auf die Suche nach den Tätern. Ich blieb im Café und schaute mir mit den anderen Gästen die Videoaufzeichnung der Überwachungskamera an. Es waren Profis am Werk gewesen, alle gut erkennbar. Einer fischte hinter meinem Rücken die Tasche vom Stuhl, reichte sie an den Zweiten weiter, während der Dritte den Besitzer in ein Gespräch verwickelte.

Nach zehn Minuten kamen die Polizisten zurück. Sie hatten die drei Jungs gefunden, festgenommen und zur Wache gebracht, wo sie „erkennungsdienstlich“ behandelt wurden. Meine Tasche war nicht dabei. „Rufen Sie uns morgen an“, sagte einer der Beamten, „dann wissen wir schon mehr.“ Ich inspizierte noch alle Abfalleimer und Mülltonnen der Umgebung und rollte heim, tief beeindruckt von der Professionalität der Diebe und der Effizienz der Polizei.

Acht Stunden später wusste ich tatsächlich mehr. Ein Mitarbeiter der Berliner Stadtreinigung hatte meine Brieftasche in unmittelbarer Nähe des Tatorts im Rinnstein gefunden und mich angerufen. Das Bargeld war weg, aber die Kreditkarten, der Personalausweis und der Führerschein waren noch da, gelobt sei der Herr. Ich holte die Brieftasche bei dem freundlichen Stadtreiniger ab, bedankte mich mit einer Flasche kalifornischen Rotweins und ließ mir seine Adresse geben, da ich nur fünf Euro bei mir hatte. Dann fuhr ich zur Polizeiwache, wo ich eine Weile warten musste, weil gerade Schichtwechsel war. Ich schaue selten Krimis im Fernsehen, trotzdem fiel mir der Unterschied zum wahren Leben gleich auf. Keine Hektik, kein Geschrei, kein Herumgerenne. Stattdessen wurden in aller Ruhe Akten hin- und hergetragen. Muss auch mal sein.

Als ich schließlich einer Polizeibeamtin gegenüberstand und ihr berichtete, ein Müllmann habe meine Brieftasche gefunden, war sie sichtlich erleichtert: „Da haben Sie ja Glück gehabt! Das passiert nur wenigen.“ Mit ein wenig Glück würde auch die Tasche mit dem Rest der Beute auftauchen: dem Pass, dem Telefonbuch und der kleinen Schneekugel aus Kairo mit einer Sphinx drin. Ich sollte beim Landeskriminalamt anrufen, wohin man die Sache abgegeben habe. Was mit den drei Tätern geschehen sei, das wüsste sie nicht, aber die Kollegen beim LKA würden es mir sicher sagen.

Zwei Stunden später telefonierte ich mit Kommissar Z. vom LKA. Ja, er wisse von dem Vorgang, die Polizei habe drei „Tatverdächtige“ festgenommen, erkennungsdienstlich behandelt und wieder gehen lassen. Einen Haftgrund habe es nicht gegeben, alle drei hätten „ladungsfähige Adressen“ gehabt. „Sie haben sich zur Sache nicht geäußert, sie werden wieder vorgeladen, aber wir rechnen nicht damit, dass sie erscheinen werden.“ Er selber habe die Ermittlungen noch nicht aufgenommen, dafür müsse er zuerst die Akte auf dem Tisch haben, und das würde mit der Hauspost „zwei Tage dauern“; andererseits seien „Meldewege nicht eingehalten“ worden, „man hätte die drei uns gleich anbieten müssen“, dann hätte man bei der ersten Vernehmung vielleicht etwas erfahren. Es gebe zwölf- bis fünfzehntausend Delikte dieser Art jedes Jahr in Berlin, die meisten ausgeführt von „nordafrikanischen Tätern, die sich darauf spezialisiert haben“, da könne man nicht viel machen. „Das wird hier so wegverwaltet.“ Kommissar Z. versprach, mich wieder anzurufen. „Aber machen Sie sich keine große Hoffnung. Wenn kein Zufall passiert, können Sie die Tasche abschreiben.“ Es sei immerhin kein Raubüberfall gewesen und Gewalt sei auch nicht angewandt worden.

Heute Abend bin ich wieder in Kreuzberg. Ich werde keine Kreditkarten mitnehmen und nur ein paar Euro einstecken. Denn auch die nordafrikanischen Profis werden wieder unterwegs sein und ihren Beitrag zur Berliner Kriminalstatistik leisten. Im sicheren Vertrauen darauf, dass sie „ladungsfähige Adressen“ haben und im schlimmsten Fall einfach „wegverwaltet“ werden.

Der Autor ist „Spiegel“-Reporter.

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