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Meinung: Positionen: Demokratie mit Feindbild

Die Anschläge vom 11. September haben Tod und Leid über Amerika gebracht, und sie haben das Selbstgefühl dieses Landes, seine kollektive Identität erschüttert.

Die Anschläge vom 11. September haben Tod und Leid über Amerika gebracht, und sie haben das Selbstgefühl dieses Landes, seine kollektive Identität erschüttert. Für die Zukunft ist die Antwort auf drei Fragen bedeutsam: Worin besteht diese "Identität" Amerikas? Wie wurde sie verletzt? Wie gehen die USA mit dieser Wunde um?

Die Hauptmerkmale der amerikanischen Identität sind Individualismus und Patriotismus. Amerikaner sind "born to be wild" und sollen machen dürfen, was sie wollen. Das heißt: Jeder ist für sich und seine Taten verantwortlich. Diese Selbstverantwortung steht hinter der Feier des self-made man, aber auch hinter der Dramatisierung der Täterschaft, wie sie ihre Zuspitzung im Ritual der Todesstrafe findet. Der eigentliche Erfolg dieses Landes besteht darin, aus der Ansammlung von Individualisten eine Gesellschaft geformt zu haben, die um ihr Wir-Gefühl nie verlegen ist. Mögen Amerikaner auch damit beschäftigt sein, ihr eigenes Glück zu schmieden, so pflegen sie doch seit jeher den Patriotismus, den Stolz auf ihr gelobtes Land. Als kollektives Bindemittel für das Wir-Gefühl dienen Symbole, in denen die Prinzipien "Leben, Freiheit und der Verfolg des Glücks", wie es in der Unabhängigkeitserklärung 1776 hieß, für jeden fassbar werden: Symbole wie die Flagge, die Freiheitsstatue, der Ford Mustang, das World Trade Center.

Was nun die Verletzung dieser Identität anbelangt, so besteht die zusätzliche Infamie der Angriffe darin, dass kollektive Symbole Amerikas zerstört worden sind. Und gestört wurde auch die Logik individueller Verantwortung, von der das amerikanische Leben getragen ist. Diejenigen nämlich, die im strikten Sinne als Täter anzusehen sind, haben sich bei ihren Taten selbst getötet. Damit genau ist das Ritual von Schuld, Verantwortung und Vergeltung erschwert, das in Amerika bei solchen Gelegenheiten ausgeführt wird - zuletzt bei der Hinrichtung Timothy McVeighs, des Attentäters von Oklahoma. Es hat sich eingebürgert, die Attentäter "feige" zu nennen, wogegen die amerikanische Publizistin Susan Sontag jetzt eingewandt hat, es gehöre immerhin einiger "Mut" dazu, sein eigenes Leben zu opfern. Die "Feigheit", die hier gemeint ist, besteht aber darin, sich durch Selbstmord der Verfolgung zu entziehen.

Nun gehört zur Suche nach Verantwortlichen immer auch die Suche nach Hintermännern und Fadenziehern, und auch hier hat die amerikanische Politik die Ursache der Gefahren immer gerne individualisiert: Das Reich des Bösen hatte meist einen Vorsitzenden, ob er nun Castro, Ghaddafi oder Hussein hieß. Dass das Bild der Welt damit auf fahrlässige Weise vereinfacht wurde, hat man in Amerika begeistert zur Kenntnis genommen. Heute nun scheint mangels des Zugriffs auf direkt Verantwortliche die Festlegung auf den Feind im Hintergrund besonders dringend zu sein.

Wie soll Amerika nun mit dieser Wunde umgehen? Schon in den ersten Stunden nach dem Attentat versuchte man, für den Vergeltungsschlag eine Adresse zu benennen. Bushs Western-Parole lautete: Wanted - dead or alive. In seiner Kongress-Rede vom Donnerstag folgte er der Feindbild-Logik, zeigte zugleich aber - eher unfreiwillig - ihre Grenzen auf. Echte Belege für die Täterschaft blieb er schuldig, doch ungeachtet dessen brachte er die Logik von Feind, Feindbild und Verantwortung ins Rollen: Von den Attentätern gelangte er zu Osama bin Laden, von ihm zu den Taliban und schließlich zu der "Nation", die ihn beherbergt und sich so insgesamt zum "Feind" Amerikas macht. Doch ist diese Verantwortungs-Kette, bei der am Ende jeder Bürger Afghanistans mitgefangen, mitgehangen sein könnte, nicht arg dünn? Sie ähnelt sogar der These von bin Laden, wonach jeder US-Bürger, der mit seinen Steuern Aktionen gegen die arabische Welt finanziere, den Tod verdient habe.

Bushs Antwort auf die Frage "Wer hat unser Land angegriffen?" lautete wörtlich: "Alle Hinweise weisen auf eine Ansammlung locker verbundener terroristischer Organisationen namens Al Qaida". Wie bitte? Mit der Verwendung des Wortes "locker" hat er am Ende ungewollt seine eigene Verantwortungs-Logik in Zweifel gezogen. Ihr muss man eine schmerzliche Einsicht entgegenhalten: Wer nicht wahllos töten will, darf sich nicht an leicht verschiebbare und vergrößerbare Feindbilder halten. Stattdessen geht es um die Suche nach echten Schuldigen und auch um die präzise Einschätzung der verworrenen Lage in den islamischen Ländern. George Bush hat die Devise ausgegeben: "Wir kämpfen für unsere Prinzipien, und unsere erste Verantwortung ist es, unser Leben an ihnen auszurichten." Das Prinzip des Feindbilds sollte dabei nicht gemeint sein.

Der Autor ist Professor für Philosophie an der Universität St. Gallen. Zuletzt veröffentlichte er: "Unter Amerikanern. Eine Lebensart wird besichtigt".

Dieter Thomä

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