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Positionen: Der Kollege als Stechuhr

Die Entkoppelung von Zeit und Geld erscheint vielen anrüchig. Doch wer über zu hohe Managergehälter lamentiert, ist geistlos.

Der amerikanische Publizist und Politiker, Philosoph und Erfinder Benjamin Franklin riet 1748 einem jungen Geschäftsmann, er solle immer daran denken, dass Zeit Geld sei. „Time is money“: Die Formel machte Karriere; sie ist ein Inbegriff kapitalistischer Denkungsart, denn durch das System der Verzinsung sind Zeit und Geld unauflöslich miteinander verknüpft. Aber dann kam Karl Marx und wandte dieselbe Gleichung auf die arbeitenden Menschen an. „Zeit ist Geld“ gilt nämlich auch bei deren Entlohnung. Die dient bekanntlich zur Reproduktion der Arbeitskraft, und ihre Höhe richtet sich nach der dafür nötigen Zeit.

Seither hat sich diese kommunistische Betrachtungsweise bis zur Alleinherrschaft durchgesetzt. Arbeit ist verkaufte Zeit; alle Leistung wird in Tagen, Stunden und Minuten gemessen; es kommt im Berufsleben schon lange nicht mehr darauf an, was einer tut, sondern wie lange er anwesend ist. Was zählt, ist einzig die Dauer der Anstrengung, nicht ihr Erfolg, ihre Stärke oder Qualität.

Zumal in Deutschland grassiert eine Personalabteilungsmentalität, die aus Kollegen Stechuhren mit Sitzfleisch macht. Aus dieser Angestelltenperspektive erscheint jede anders begründete Bezahlung als unredlich und empörend. Managergehälter beispielsweise, die so gewaltig sind, dass sie – auf Tätigkeitsminuten umgerechnet – absurde Werte ergeben, werden gegenwärtig besonders beargwöhnt. Dabei liegt die offensichtliche Absurdität eben in der Umrechnung selbst. Es gibt nämlich Menschen, die werden nicht für hingegebene Zeiteinheiten bezahlt, sondern für ihr So-Sein.

George Clooney oder Angelina Jolie bekommen ihre Millionengagen auch nicht dafür, dass sie soundso lange brauchten, um ihren Text zu lernen. Anna Netrebko und Placido Domingo berechnen ebenfalls nicht ihre Übungsstunden; und bei der Honorierung eines politischen Feuilletons bleibt gänzlich außer Betracht, ob der Autor eine Stunde, einen Tag oder ein Leben lang daran gesessen hat.

Diese Entkoppelung von Zeit und Geld macht manche Leute rasend. Aber dieselben Leute geben sich jedes Mal, wenn der Jackpot öffentlichkeitswirksam gefüllt ist, dem Lottofieber hin – in der Hoffnung, auf einen Schlag ein paar Millionen Euro einzusacken. Da hat die Ruckartigkeit des Reichwerdens auf einmal nichts Anrüchiges mehr, sondern steigert bloß die Freude.

Nun ist das ganze Wirtschaftsleben durch genau solche lottohafte Ruckartigkeit gekennzeichnet: Märkte öffnen sich oder verfallen, was im Handumdrehen und ganz unabhängig von der Eigenleistung eines Unternehmens zu Gewinnen oder Verlusten führt; am Firmament der Börse werden solche Vorgänge ins Gigantische projiziert, und fabelhafte Kapitalzuwächse oder -vernichtungen sind die Folge. Derweil wünscht das Gros der Arbeitnehmer – von solchen jähen Bewegungen unbehelligt –, ein arbeitszeitbasiertes Gehalt überwiesen zu bekommen, und zwar mit kalendarischer Regelmäßigkeit.

An der Schnittstelle zwischen dem Marktgeschehen und dem Mitarbeiterheer stehen die Manager. Sie haben im Grunde zwei konträre Zeitsysteme miteinander zu vereinbaren: Das eine ist von Sprunghaftigkeit gekennzeichnet, das andere von Stetigkeit. Deshalb lässt sich die Arbeit der Manager keiner der beiden Dimensionen ganz zuordnen – und ihr Gehalt auch nicht. Stattdessen hängt ihre Vergütung vom wichtigsten Faktor allen Marktgeschehens ab: von der Nachfrage. In dem politischen Empörungsdiskurs wird meist übersehen, dass es sich hierbei um eine regulierende Kraft von beinharter Objektivität handelt. Die Manager, deren hohe Gehälter so heftig kritisiert werden, legen die Höhe ja nicht selber fest, sondern wie bei Clooney, Jolie, Netrebko, Domingo e tutti quanti sind es zahlungswillige Kunden und Mandanten, die den Preis hochtreiben.

Dieser von Angebot und Nachfrage gesteuerte Mechanismus gilt jedoch als anrüchig, sobald sich seine Resultate allzu weit vom Zeittarifkonzept entfernen. Dann gibt es nach der Mindestlohndebatte nun auch noch Höchstlohnfantasien, mit denen sich Politiker und Funktionäre gerne wichtig machen.

Dahinter steckt, abgesehen vom verständlichen Neid auf alle finanziell Bessergestellten, die Überzeugung, dass nur die Zeit als Berechnungsbasis von Entgelten zu rechtfertigen sei – eine Überzeugung, die jeder geistige Mensch energisch bekämpfen muss, sonst kommt es dahin, dass sich der Preis einer Konzertkarte nach der Dauer der Darbietung richtet, dass Maler ihre Bilder nach Stundenaufwand berechnen und dass der Besuch eines Museums umso mehr kostet, je länger man darin verweilt.

Der Autor ist freier Journalist und Buchautor. Er lebt in Köln und Genf.

Burkhard Müller-Ullrich

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