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POSITIONEN: Die Kultur hält Europa zusammen

Den Kontinent verbindet mehr als Wirtschaft und Furcht vor dem Krieg.

Der Erste Weltkrieg, nicht erst der Zweite, ist die wahre Geburtsstunde der Europäischen Union, die sich als „Nie wieder Krieg“-Union verstand. Denn es war der Erste Weltkrieg, der Europa aus den Fugen brachte. Er zerstörte die alte Ordnung und beendete eine Epoche. Folglich sollte man neu über den Ersten Weltkrieg nachdenken. Nur so überschreiten wir die engen Grenzen, die ein Gedenkjahr setzt. Was könnten wir dabei lernen? Zum Beispiel ein Empfinden dafür, dass wirtschaftliche und finanzielle Verflechtungen allein nicht kriegsverhindernd sind. Deutschland und Großbritannien waren 1913 füreinander die zweitgrößten Handelspartner. Und doch brach 1913 der Krieg aus, trotz aller hoher „Interdependenz“, wie es heute heißt. Daraus darf man ableiten, dass die EU mehr braucht als die wirtschaftlich immer enger werdende Verknüpfung. Wer Europa nur mit Zahlen und -Zeichen erklärt, der darf sich nicht wundern, wenn keine Begeisterung aufkommt. Auch der Friedenswunsch reicht nicht aus, wenn der lange Frieden in Europa schon „eingepreist“ ist, der Schrecken immer weiter in die Vergangenheit zurückweicht. Wir brauchen ein neues europäisches Narrativ. So nah auch schwerste Konflikte an uns herankommen – Syrien, Ägypten, selbst die Balkankrise vermögen nicht den als unumkehrbar empfundenen Frieden in Europa infrage zu stellen. Was aber wäre dauerhaft tragend für Europa? Das europäische Narrativ ist die Kultur. Mit der Kultur als Kernelement der europäischen Selbstdefinition entsteht eine Legitimationskette, die viel weiter zurückreicht als bis zur Montanunion oder deren Wurzeln, dem Generation für Generation ausgelebten deutsch-französischen Konflikt. Setzt man die Kultur ins Zentrum, wäre es vorbei mit dem Vorwurf der Künstlichkeit, die der EU anhaftet. Dass wir Kultur-Europäer sind, ist leicht zu begreifen. Es erfordert lediglich eine andere Wahrnehmung und eine Wertstellung von Kultur: Nicht Kunst am Bau der Gesellschaft, sondern als dessen Fundament. Jedem Bürger muss Zugang zur Kultur ermöglicht werden. Jeder erhielte Zugang zu einer so starken, über Jahrtausende finanzierten Rückversicherung. Sie besagt, dass die eigene Identität sicher und fest in einer globalen, als quecksilbrig empfundenen Welt steht: Ich bin ich, und ich bin Europäer. Europa ist eben keine Kopfgeburt von Technokraten, auch kein Homunculus der Friedensfreunde, so gut gemeint beide Schöpfungen auch sind. Europa ist entstanden wie ein Brotteig, dem immer mehr Zutaten hinzugefügt wurden seit den Zeiten der Athener Republik. Er wurde zerrissen und wieder zusammengefügt – wie durch einen Bäcker, der nicht wusste, ob er ein ganz großes Brot oder viele kleine Brötchen backen wollte. Und da der Teig auf dem großen Backtisch, der die geografische Karte ist, von einem Ende zum anderen gewalkt wurde, sind die verschiedenen Kulturen zwar nicht homogenisiert, aber ständig miteinander verwoben worden. Darum gibt es eine so vielfältige Kultur, die wir alle als unterschiedlich, aber nicht fremd empfinden. Anders als Amerika ist Europa kein Schmelztiegel, aus unterschiedlichen Kulturen wurde nicht eine. Das ständige Umherrühren hat eine Emulsion geschaffen, die Verschiedenes verbindet, ohne es in einem Neuen aufzulösen. Emulsionen aber sind nur dauerhaft, wenn sie in Bewegung bleiben. Darum ist die Bewegung Europas Schicksal. Ein wunderbares Schicksal, denn die Bewegung bietet Teilhabe, von Generation zu Generation. Freilich ist Beweglichkeit nicht das Allererste, das wir mit Europa assoziieren. Zu Unrecht. Kein Raum ist in den letzten 2000 Jahren so sehr aus sich selbst heraus in Bewegung gewesen wie der europäische. So ist das europäische Narrativ das ständige Bemühen um die Schaffung eines Ganzen, das nicht ein amorphes Kollektiv, sondern ein vielgliedriger Korpus ist. Europa ist nicht Amerika, ist keine den Kontinent umfassende Nation. In Europa verschmelzen keine Nationen, Europa umfasst sie. Es ist ein Diadem, eine große Fassung für viele facettenreiche Steine. Die kleinste Facette ist der Einzelne. Der Autor ist Bundestagsabgeordneter der CDU.

Rüdiger Kruse

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