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POSITIONEN: Die Wahrheit über Walter Linse

Wie aus einem Opfer der SED-Diktatur ein böser Nazi wurde. Die Gedenkstätte Hohenschönhausen wollte einen Preis nach ihm benennen, doch man störte sich daran, dass Linse während der NS-Zeit Mitglied in der NSDAP war.

Walter Linse war ein Held dieser Stadt. 1952 erscholl zehntausendfach der Ruf vor dem Rathaus Schöneberg nach seiner sofortigen Freilassung. Ein Entführungskommando der Stasi hatte dem in Lichterfelde wohnenden Juristen am frühen Morgen des 8. Juli aufgelauert, als er nach Zehlendorf wollte, um dort seiner, wie es damals in Ost- Berlin hieß, „antikommunistischen Wühlarbeit“ nachzukommen. Linse war Abteilungsleiter beim Untersuchungsausschuss freiheitlicher Juristen (UfJ), einer Organisation, die, in den besseren Tagen der CIA von den Amerikanern finanziert, die von der Sowjetunion gesteuerten Wirtschaftspläne Ost auskundschaftete, auf „Rechtsnot“ und Demokratiedefizit in der jungen DDR aufmerksam machte, kurz – die SED-Diktatur beim Namen nannte. Wahre Kundschafter also, nicht unbedingt des Friedens, aber der Menschenrechte. Linse blieb seit seiner Verschleppung verschollen. Erst in den 90er Jahren wird bekannt, dass er in Berlin-Karlshorst als „feindlicher Agent“ zum Tode verurteilt, nach Moskau verschleppt und dort am 15. Dezember 1953 erschossen wurde. Seit 1961 erinnert die Walter-Linse- Straße in Lichterfelde an diesen Terrorakt. Jetzt droht Linse neuerlich die Verfemung.

Die Gedenkstätte Hohenschönhausen wollte einen Preis nach ihm benennen, der die Aufarbeitung kommunistischer Diktaturen auszeichnen sollte – doch von unerwarteter Seite, dem Landesbeauftragten für Stasiunterlagen Martin Gutzeit, kam Widerspruch. Statt Fragen nachzugehen, die eine überzeugend geschriebene Biografie des Historikers Benno Kirsch über Linses Tätigkeit in der IHK in Chemnitz während der NS-Zeit aufwirft, zog Gutzeit es vor, dem unabhängigen Forscher eine eigene Expertise des Gutachters Klaus Bästlein entgegenzusetzen.

Schon Kirsch zeigt, dass Linse in Chemnitz mit Arisierungsvorgängen befasst war – dem staatlichen Raubzug gegen die Juden –, er also Teil der NS-Funktionselite war. Doch der Historiker insistiert darauf, dass Linse in jener Zeit des Unrechts seine Integrität habe bewahren können und im Zwang der NS-Maschinerie Handlungsspielräume zu nutzen verstand. Bästlein kam die Differenzierung nicht gelegen. Die in seinem Auftrag aus dem Ärmel geschüttelte Einschätzung setzt Linse gleich mit dem landläufigen Bild vom NS- und Schreibtischtäter. Zur Freude der Linken im Bundestag, die zum Teil noch selbst aus den Reihen der SED stammen. Sie nutzten die Steilvorlage, weil doch damit bewiesen wurde, dass die Bekämpfung von Regimegegnern, allesamt finstere, der Restauration verpflichtete Altnazis, durch ihre stalinistischen Altvorderen gerechtfertigt war.

Linse eignet sich nicht fürs Grobe. Beispiele belegen, dass das Parteimitglied (seit 1940) kein rassistischer Scharfmacher war. Wenn Antisemitismus, wie im gerade diskutierten Fall Robert Havemanns, auch eine Tarnung gewesen sein soll, dann hat Linse auf sie verzichtet. Er setzte sich mehrfach für Juden ein, in mindestens zwei Fällen konnte er Verschleppungen abwenden. Davon nimmt Bästlein wenig Notiz. Wir sollten begreifen, daß es in einem Jahrhundert zweier Diktaturen keine linearen Lebensläufe gibt, keine kontinuierlich weiße Weste. Marguerite Duras, von vielen wegen ihrer antinazistischen Gesinnung geschätzt, kollaborierte im besetzten Frankreich mit den Nazis. Stauffenberg, Schindler: an ihren Taten gibt es keinen Zweifel, aber genauso wenig an den Brüchen in ihrer Geschichte. Sie bleiben ein Vorbild. Zuletzt trieb Günter Grass’ Geständnis viele in Gewissensnöte.

Es gilt das rechte, nicht das selbstgerechte Maß zu finden, näher hinzusehen und Abstufungen wahrzunehmen – dafür bietet sich Walter Linse geradezu an. Man sollte ihm das Recht zugestehen, aus den Erfahrungen der einen Diktatur gelernt zu haben, um in der zweiten zu sagen: „Ich nicht“. Es spricht manches dafür, dass der Preis, der nach ihm benannt werden sollte, auch an ihn gegangen wäre.

Der Autor berichtet am Mittwoch um 22.05 Uhr in Klartext (rbb) über den Fall Walter Linse.

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