zum Hauptinhalt

POSITIONEN: Friede auch denen, die bösen Willens sind

Mitgefühl, Racheverzicht, Respekt: Daraus besteht mein Europa, befindet der Politologe und Publizist Alfred Grosser.

Es gibt eine Europäische Leitkultur – mit und ohne Gott. Sei es nur, weil sich der Gott der Christen sehr verändert hat. 1914 noch predigten alle, französische und deutsche, katholische und evangelische Bischöfe den Hass gegen den Feind und flehten Gott an, doch mit den Seinen gegen den bösen Feind zu kämpfen. „Gott mit uns“ stand auf den Gürtelschnallen. Der kämpfende, strafende Gott, der ist heute noch der der amerikanischen Fundamentalisten und von Präsident Bush. In Frankreich und Deutschland ist er der leidende Menschgewordene. In Händels Messias ist heute die wichtigste Stelle das „He was despised“ („Er wurde verachtet“).

Daher schreibt der katholische Erzbischof von Clermont: „Es wäre ein verhängnisvoller Fehler, wollten wir einen Kreuzzug der Gläubigen gegen die Ungläubigen oder sogar eine heilige Allianz der Religionen gegen Agnostiker und Atheisten ausrufen. Das Unterscheidungsmerkmal ist nicht die Verkündung des Glaubens. Es ist die gemeinsame Haltung gegenüber dem verletzten Menschen.“ Ist der Unterschied so groß zwischen der Feststellung der SPD von 1954 einerseits „Die sozialistischen Ideen sind keine Ersatzreligion … In Europa sind Christentum, Humanismus und klassische Philosophie geistige und sittliche Wurzeln sozialistischen Gedankenguts“, und dem letzten Text von Johannes Paul II. andererseits: „Die Aufklärung hat nicht nur die Gräuel der französischen Revolution hervorgerufen. Sie hat auch positive Erzeugnisse gehabt, wie die Ideen der Freiheit, der Gleichheit und der Brüderlichkeit, die auch in den Evangelien verwurzelt sind. Die Feststellung, dass dieser Prozess der Spuren der Aufklärung oft zur Wiederentdeckung der in den Evangelien enthaltenen Wahrheiten geführt hat, ist eine Quelle des Nachdenkens. Sogar die sozialen Enzykliken weisen darauf hin“?

Was sind nun die gemeinsamen Werte? In einer schönen Predigt am 4. April 2007 sagte der Erzbischof von Paris: „Wir glauben, dass die menschliche Würde nicht konfessionsgebunden ist und dass alle Frauen und Männer unserer Zeit berufen sind, in ihr zu leben und sie zu verteidigen.“ Dazu gehört zunächst einmal das Verständnis für das Leiden des anderen. Warum stellte ich in meinem ersten Buch „L’Allemagne de l’Occident 1945-1952“ die deutschen Nächte unter den Bomben in Hamburg oder Dresden und das furchtbare Schicksal der zwölf Millionen Vertriebenen dar? Weil wir von keinem jungen Deutschen erwarten konnten, dass er das Ausmaß von Hitlers Verbrechen voll versteht, wenn wir nicht ein echtes Mitgefühl für das Leiden der Seinen zeigen. Heute kann man von keinem jungen Palästinenser verlangen, die Auswirkung grausamer Attentate einzusehen, wenn man kein Mitgefühl beweist für die Erniedrigungen und das Elend in Gaza und den „Gebieten“.

Das Verständnis für das Leiden anderer setzt erstens voraus, dass man die Rache ablehnt. Im ergreifendem Gebet aus dem Frauen-KZ Ravensbrück heißt es: „Friede auch den Menschen, die bösen Willens sind und Ende aller Rache … In Erinnerung an unsere Feinde, sollten wir nicht als ihre Opfer weiterleben“; und zweitens, dass man Kant versteht mit der Aufklärung als Distanznahme zu sich selbst, zu seinen Zugehörigkeiten, dass man die Vielfalt der eigenen Identitäten versteht. Denn jede Reduzierung auf eine einzige Identität zeitigt Ausschluss der anderen und Selbstghettoisierung.

Darüber hinaus gibt es andere gemeinsam anzustrebende Tugenden. Der Respekt, die Ehrfurcht – nicht vor den Mächtigen, sondern vor den Schwachen, den Benachteiligten. Von Seiten der Intellektuellen vor denen, die nicht wortgewandt sind. Aber auch vor den Schöpfern.

Dieser Respekt fehlt heute bei den Regisseuren im Theater und in der Oper. In seiner Rede zum Schiller-Jahr 2005 hat Bundespräsident Horst Köhler zurecht gesagt, so werde die Kulturvermittlung an die jüngeren Generationen zerstört. Respekt vor allem aber vor sich selber. Es gibt menschenwürdigere Haltungen und Gedanken als andere (hier verbietet die katholische Kirche in Deutschland zu viel, aber die evangelische zu wenig!). Dass es darüber hinaus schön verkündete Europäische Werte gibt, das kann man in manchen Texten nachlesen, aber auch in den Urteilen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte.

Der Autor, geboren 1925 in Frankfurt am Main, ist französischer Politologe und Publizist. Er lebt in Paris.

Alfred Grosser

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false