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Positionen: Jenseits der Trauer

Die polnische Tragödie von Smolensk lässt viele Deutsche kalt. Nur die Elite bemüht sich um die richtigen Worte.

Die große Popularität des heutigen Premierministers von Russland baut nicht zuletzt auf der konsequenten Wiederbelebung von kommunistischen Geschichtslügen auf. Dazu gehörte auch das staatliche Verschweigen der Wahrheit über den sowjetischen Völkermord in Katyn. Im Vorfeld der polnisch-russischen Feierlichkeiten zum 70. Jahrestag dieses Mordes an 22 000 Angehörigen der polnischen Elite war im Kulturkanal des russischen Staatsfernsehens der von Andrzej Wajda vor einigen Jahren gedrehte Film „Katyn“ gezeigt worden. Diese Vorführung war eine Sensation, wenngleich der Kulturkanal nur einen Teil der russischen Intellektuellen erreicht.

Nun, nach der Flugzeugkatastrophe von Smolensk, geschah das Unvorstellbare: Anfang dieser Woche wurde „Katyn“ zu bester Sendezeit im ersten russischen Fernsehkanal gezeigt. Und ausgerechnet Wladimir Putin ordnete eine Staatstrauer an. Die autoritären Herrscher Russlands arbeiten mit den polnischen Behörden auf beispielhafte Weise zusammen. Überwältigend sind zudem die Reaktionen der gewöhnlichen Russen auf die polnische Tragödie.

In einem Kommentar zu den Reaktionen auf die Katastrophe, der in der größten seriösen Tageszeitung Polens erschien, wurde darauf hingewiesen, dass unter den Nachbarn Polens nur der Präsident von Belarus keine Staatstrauer anordnen will. Die autoritäre Republik Belarus stelle damit eine Ausnahme dar, obwohl die belarussische Bevölkerung eine große Anteilnahme zeige.

Dem polnischen Zeitungskommentator scheint entgangen zu sein, dass sich auch die demokratische Bundesrepublik nicht unter die Staaten einreihen will, die auf die Katastrophe mit einer offiziellen Staatstrauer (im Unterschied zur bloßen Trauerbeflaggung) reagierten – anders auch als etwa Brasilien, Serbien und Georgien.

Alle Polen wissen zugleich darüber Bescheid, dass der deutsche Außenminister beinahe in Tränen ausbrach, als er die schreckliche Nachricht zum ersten Mal kommentierte. Guido Westerwelle kannte nämlich den Staatspräsidenten Lech Kaczynski, und er muss wissen, dass dem polnischen Präsidenten zu seinen Lebzeiten in Deutschland zu Unrecht auch Homophobie vorgeworfen worden war. Andere Vertreter der deutschen Elite haben sich ebenfalls um die richtigen Worte bemüht, worauf man in Polen mit Tränen und Dankbarkeit reagiert hat.

Die ganze, in Polen unbekannte Wahrheit ist aber anders: Nicht nur den deutschen Staat, sondern auch die allermeisten Deutschen geht die polnische Tragödie kaum etwas an. Recht vielen von ihnen gab die Tragödie sogar dazu Anlass, jene antipolnischen Vorurteile zu pflegen, die seit Jahrhunderten einen Teil der deutschen Nationalidentität ausmachen.

So reißen seit Sonntag in der deutschen Presse die Spekulationen darüber nicht ab, dass Lech Kaczynski die Landung des Flugzeugs trotz widriger Wetterumstände erzwungen haben soll. Selbst Schuld sozusagen. Zudem wird immer wieder angedeutet, dass die Katastrophe die Folge der für die Polen angeblich so typischen Schlamperei und der vermeintlich obsoleten Fixierung auf Geschichte darstellt. Die Aufsicht des Portals „web.de“ musste sogar einen Chat schließen, weil er im Nu zu einem Forum des überwiegend jugendlichen deutschen Cyber-Antipolonismus mutierte.

Diese weltweit wohl einmaligen Reaktionen zeigen, dass die Polen Freunde so gut wie ausschließlich unter den besten Deutschen haben. Es sind Menschen, die wie Lech Kaczynski Idealismus, Integrität und Mut auszeichnen, und zwar ungeachtet der politischen Meinungen. Diese guten Deutschen hätten sich gewiss spätestens an diesem Wochenende die Staatstrauer auch in ihrem Land gewünscht. Sie werden sich damit abfinden müssen, dass selbst eine auf gute Sendezeit gelegte Vorführung des Films „Katyn“ im öffentlich-rechtlichen Fernsehen für eine Nation der spätrömischen Dekadenz offenbar eine unvertretbare Zumutung darstellt.

Der Autor ist Politikwissenschaftler an der Uni Regensburg.

Jerzy Mackow

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