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POSITIONEN: Keine Helmpflicht für Fahrradfahrer

Wer die Sicherheit erhöhen will, muss das Tempo senken.

Das Oberlandesgericht Schleswig hat am 5. Juni 2013 einer Radfahrerin eine Mitschuld von 20 Prozent an ihren schweren Kopfverletzungen gegeben, weil sie keinen Helm getragen hatte. Am eigentlichen Unfall trug sie keine Schuld! Ein Autofahrer hatte die Wagentür geöffnet, ohne in den Rückspiegel zu schauen. Ob das Gericht bei einem Fußgänger oder Autofahrer im Cabriolet ähnlich urteilen würde, wenn auch hier ein Helm die Unfallfolgen reduziert hätte?

Bisher ist das Tragen eines Helmes gesetzlich nicht vorgeschrieben, und das aus gutem Grund. Ein Psychologieprofessor im britischen Bath hat Selbstversuche zum Fahren mit und ohne Helm unternommen. Als Radler mit Helm lebte er gefährlicher: Er wurde mit höherer Geschwindigkeit und geringerem Abstand überholt. Sicherlich unbewusst handelten die Autofahrer nach dem Motto: Der Radler ist ja geschützt, da braucht man keine besondere Rücksicht zu nehmen. Wie viel langsamer ein Radler im Vergleich zu einem Mopedfahrer ist, dringt nicht mehr ins Bewusstsein.

Nachdem in Australien die Helmpflicht eingeführt worden war, nahm das Fahrradfahren bei jungen Menschen um 30 Prozent ab, und die Unfallzahlen stiegen. Nicht der Helm, sondern das Verhalten der Verkehrsteilnehmer entscheidet über die Unfallgefahr. In den USA liegt die Helmquote bei 38 Prozent, in den fahrradbegeisterten Niederlanden bei 0,1 Prozent. Trotzdem werden in den USA auf derselben Distanz zehnmal so viele Radler getötet wie in den Niederlanden.

Es gibt Radler, die sich mit einem Helm besser geschützt fühlen. Ihnen steht es frei, ihn zu tragen. Man fühlt sich als Radler auf Gehweg-Radwegen ebenfalls subjektiv sicher, obwohl diese statistisch belegt besonders unfallträchtig sind und die Gefahr objektiv riesengroß ist. Die Geschichte einer Mutter, die in Berlin hinter ihrem Kind auf einem Gehweg-Radweg radelte und mitansehen musste, wie ihr Kind von einem rechtsabbiegenden Auto getötet wurde, brennt sich ins Gedächtnis ein! Radstreifen auf der Fahrbahn sind nicht nur kostengünstiger, sie erhöhen auch die Sicherheit, weil die Sichtbeziehung der Verkehrsteilnehmer entscheidend ist. Auch deshalb werden in Berlin anstelle der Gehweg-Radwege nur noch Fahrradstreifen auf der Fahrbahn markiert.

Natürlich ist es wichtig, Unfallfolgen zu mildern. Noch besser ist aber, sie zu verhindern. Von rechtsabbiegenden Autos werden die meisten Radler getötet. Ein Drittel aller Unfälle werden durch überhöhte Geschwindigkeit verursacht. Wer Unfälle vermeiden will, sollte deshalb die Geschwindigkeit senken. Das Europäische Parlament hat im Jahr 2011 mit großer Mehrheit den zuständigen Behörden „nachdrücklich empfohlen“, in Stadtgebieten „generell eine Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h vorzuschreiben“. Diesem Antrag haben alle deutschen Abgeordneten zugestimmt – auch die von CDU/CSU und FDP.

In Berlin liegt die Durchschnittsgeschwindigkeit ohnehin nur bei 19 km/h. Da in deutschen Städten – so Peter Ramsauer – 90 Prozent aller Autofahrten kürzer als sechs (!) Kilometer sind, ist ein Zeitverlust quasi nicht existent.

Umso höher ist aber der Sicherheitsgewinn. Allein mit Tempo 30, das den Bremsweg von 28 auf 14 Meter halbiert, ließen sich die Unfallzahlen um 42 Prozent verringern! Bei einem Zusammenprall werden bei Tempo 30 nur zehn Prozent der schwächeren Verkehrsteilnehmer, bei Tempo 50 aber 80 Prozent getötet.

In Berlin ist auf fast 80 Prozent der Straßen Tempo 30 vorgeschrieben. Gälte das als Regelgeschwindigkeit, müssten nur die verbliebenen Tempo-50-Straßen ausgeschildert werden. Der Schilderwald wäre gelichtet, die Akzeptanz größer, die Kosten gesenkt und die Sicherheit spürbar erhöht.

Der Autor ist Mitglied des Europaparlaments (Grüne).

Michael Cramer

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