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© SCHROEWIG/News & Images

POSITIONEN: Münteferings Erbe

Das ist der tragische Kern des SPD-Unvermögens: Die Unfähigkeit ihres Vorsitzenden, die Hartz-IV-Reformen nachzubessern

Union und FDP entschärfen Hartz IV“: Es gab wohl keine Schlagzeile , die die SPD jüngst so ins Mark getroffen hat, wie diese Zuspitzung von Plänen der schwarz-gelben Koalition, das Schonvermögen beim Arbeitslosengeld II zu erhöhen. Auch wenn es nur um 20 000 bis 30 000 Fälle pro Jahr geht: Warum haben die Sozialdemokraten diese winzige Korrektur der Arbeitsmarktreform nicht selbst angepackt?

Warum hat die Partei es zugelassen, dass sich die angebliche Koalition der sozialen Kälte als Schutzpatronin der sozial Schwachen profilieren kann? Warum waren Müntefering, Steinmeier und Co. in den letzten Jahren unfähig, das Ansehen der Agenda 2010 und der Rente mit 67 zu verbessern? Ohne Antworten auf diese Fragen wird die SPD auf ihrem Parteitag in Dresden keine überzeugenden Antworten auf die Fragen der Zukunft finden.

Hartz IV und die Rente mit 67 waren mutige und moderne Jahrhundertreformen unseres Sozialstaates. Für ihre Väter war oder musste klar sein, dass sie nicht alle ihre sozialen und ökonomischen Auswirkungen voraussehen konnten. Deshalb hat zum Beispiel der Gesetzgeber bei der Rente mit 67 eine Revisionsklausel eingebaut, die die Bundesregierung von 2010 an alle vier Jahre verpflichtet, die sozialen und wirtschaftlichen Folgen der höheren Regelaltersgrenze zu überprüfen. Trotzdem haben die SPD-Spitze und die Arbeitsminister Franz Müntefering und Olaf Scholz auf rätselhafte Weise passiv auf die schwindende Akzeptanz beider Reformen in der Bevölkerung reagiert. Erst im Wahlprogramm beschloss die SPD Reformen der Altersteilzeit und des Schonvermögens – als durchsichtige Wahlkampfmanöver zu spät, um Durchschlagskraft zu entfalten.

Vor allem drei Ursachen lähmten die SPD und ihre Minister in der großen Koalition, kleine Gerechtigkeitslücken von Hartz IV und der Rente mit 67 zu schließen: die fehlende positive Einstellung der Partei zu den eigenen Reformen, eine neurotische Diskussionskultur und ein Franz Müntefering, der über Hartz IV und die Rente mit 67 wie Moses über die Zehn Gebote wachte – wie ein hoher Sozialdemokrat spitz anmerkt.

Einen der „Gründe für die Wahlniederlage“ sieht der Leitantrag für den Dresdner Parteitag darin, dass die Arbeitsmarkt- und Rentenreform „von vielen Wählerinnen und Wählern nicht akzeptiert“ wurde. Wichtiger aber war vermutlich, was der gescheiterte Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier auf der SPD-Präsidiumssitzung am 26. Oktober 2009 beklagte: „Die SPD war nie im Reinen mit sich, dass sie 11 Jahre in der Regierung gute Arbeit geleistet hat.“ Wesentlich drastischer formuliert es Heinrich Alt, Vorstand in der Bundesagentur für Arbeit und SPD-Mitglied: „Die SPD hat Hartz IV beschlossen, aber dann kollektiv verdrängt. Nur wenige Abgeordnete haben das Thema aktiv vertreten.“

Thomas Oppermann, Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Fraktion, hat den jahrelangen parteiinternen Streit über Hartz IV und die Rente mit 67 zum Schluss häufig nur noch als „neurotische Diskussion“ erlebt: „Jeder Versuch pragmatischer Änderungen mündete unweigerlich in einer Grundsatzdebatte: Bist du für oder gegen Hartz IV oder gegen die Rente mit 67.“

Die Schlüsselfigur für die Blockade der SPD war Müntefering – erst als Arbeitsminister, dann als Parteivorsitzender. Keiner der SPD-Spitzenleute hat sich für die Reformen so ins Zeug gelegt wie er. Aber keiner hat auch das Drehen kleinster Stellschrauben so sturköpfig verhindert. Selbst auf die Bemerkung von Ex-Kanzler Gerhard Schröder, die „Agenda 2010 seien nicht die Zehn Gebote, und niemand, der daran mitgearbeitet hat, sollte sich als Moses begreifen“, reagierte Müntefering bockig. Ein ranghoher Sozialdemokrat: „Unter dem Parteivorsitzenden Kurt Beck waren wir wesentlich freier als unter der Basta-Fraktion von Müntefering.“

Als der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Jürgen Rüttgers Anfang 2006 erstmals eine Verlängerung des Arbeitslosengeldes I für ältere Arbeitnehmer forderte, drohte Müntefering Bundeskanzlerin Angela Merkel in Anwesenheit von Frank-Walter Steinmeier, alle möglichen, kostenintensiven Forderungen zu Hartz IV zu stellen, wenn Rüttgers nicht aufhöre. Denn Müntefering hatte – so ein Mitarbeiter – „eine geradezu panische Angst, dass auf den ersten oder zweiten Änderungsantrag zu Hartz IV bald Antrag Nummer fünf und sechs folgen“, und dass dann das ganz Hartz-IV-Gebäude zusammenstürzt.

Damals kamen Merkel, Müntefering und Steinmeier überein, Hartz IV nicht zu ändern. Trotzdem machte Rüttgers weiter. In einem Machtkampf setzte sich dann 2008 der damalige SPD-Parteivorsitzende Kurt Beck gegen Arbeitsminister Müntefering durch, und die große Koalition beschloss, den Bezug des Arbeitslosengeldes I für über 58-Jährige auf zwei Jahre zu verlängern.

In den letzten beiden Jahren drehten dieselben Akteure den Film noch einmal, diesmal mit dem Thema höheres Schonvermögen für Hartz-IV-Empfänger. Rüttgers forderte es zuerst, die CDU übernahm seine Initiative, die Gewerkschaften schlossen sich an. Nur die SPD und das Arbeitsministerium stellten sich quer – aus systematischen Gründen und wegen hoher Kosten für die Steuerzahler. Kein Wort zu der Frage, ob ein höheres Schonvermögen gerecht ist oder nicht. Späte Einsicht bei dem ehemaligen stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden der SPD, Claas Hübner: „Wir waren manchmal zu dogmatisch. Beim Schonvermögen haben wir zu spät verstanden, dass die Menschen Angst haben, alles zu verlieren, wenn sie keine Arbeit mehr hatten.“

Ein selbstkritischer Rückblick auch im Leitantrag für den Parteitag: „Die Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre wird bei vielen Beschäftigten als Eingriff in die persönliche Lebensplanung wahrgenommen. Die Sorge vor Altersarmut ist gewachsen.“

Und das ist der tragische Kern des SPD-Unvermögens, die eigenen Reformen nachzubessern: Der Partei der sozialen Gerechtigkeit ist das Sensorium für das Gerechtigkeitsgefühl vieler Bürger abhanden gekommen.

Der Autor war stellvertretender Chefredakteur im ARD-Hauptstadtstudio.

Joachim Wagner

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