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POSITIONEN: Tottenham – warum ich gehe

Bei den Briten entlädt sich angestauter Frust in Gewalt

Ich bin kein geborener Londoner und ganz bestimmt kein authentischer Cockney. Doch vor einem Vierteljahrhundert zog ich in die Hauptstadt, um dort zu arbeiten, und fand mich in Tottenham wieder. Das war 1986, Margaret Thatchers Torys regierten unangefochten, nachdem sie im Jahr zuvor den Streik der Bergleute niedergeschlagen hatten. Am Wochenende, an dem ich einzog, bombardierten amerikanische Flugzeuge Libyen. Es hat sich nicht viel verändert. Damals ging ich mit einem Gutteil des radikalen London zum Grosvenor Square, um zu protestieren. Wir saßen auf der Fahrbahn, blockierten Oxford Street und wurden schließlich von der Polizei von der Straße gedrängt. Ich klopfte mir den Staub ab und freute mich auf das Leben in London.

1986 war Tottenham aus zwei Gründen bekannt: Erstens: den Krawallen ein Jahr früher, bei denen ein Bobby mit einer Machete getötet worden war. Diese berüchtigte Randale-Episode hatte den Ruf des Kiezes beschädigt. Zweitens: unser Fußballklub mit dem wunderbaren Namen „Tottenham Hotspur FC“. Es war der Verein des schon bald berühmtesten englischen Fußballers Paul Gascoigne. Die Gazzamania der späten Achtziger war eine Frühform des Glamourkults um David Beckham. Fünf Jahre später gewannen die Spurs den FA Cup dank Gazzas glorreichem Halbfinaltor gegen unsere Rivalen Arsenal aus der roten Hälfte Nord-Londons. Ich feierte mit und kaufte an jenem Tag meine Jahreskarte. Seitdem habe ich immer wieder auf demselben Platz im Stadion gesessen: Untere Westtribüne, Block 12.

Wie der Rest Londons ist Tottenham unglaublich multikulturell. Die antimuslimische Rechte und der faschistische Rand, die in anderen Teilen Europas erstarken, ziehen hier nicht. Aber auch hier ist nicht alles gut. Es gibt eine soziale Spaltung, die auf althergebrachten Vorstellungen von Armut und Klasse fußt. Fahren Sie abseits der Touristenpfade im West End mal nordwärts mit dem Bus, so wie ich es auf dem Weg nach Hause mache. Mein Bus ist voll von Menschen, die arm sind und größtenteils schwarz. Sie sind abgekoppelt vom politischen Prozess. Sie haben keinen oder wenig Anteil am Wohlstand und den Karrierechancen, die London einigen bietet, aber sicher nicht allen.

Ich fürchte, dass die Olympischen Spiele in London im kommenden Jahr die Schärfe dieser Spaltung aufzeigen werden. Ein Ereignis, das größtenteils vom weißen „Mittelengland“ besucht wird und bei dem das schwarze innerstädtische London mit Ausnahme einiger Leichtathleten, Getränkeverkäufer und muskulöser Ordner kaum repräsentiert sein wird. Dieser Kontrast könnte den Krawall dieser Tage wieder anheizen – mit einem starken Ungerechtigkeitsgefühl und dem sichtbaren Beweis dafür, ausgeschlossen zu sein.

Natürlich machen die meisten Menschen in Tottenham, schwarz oder weiß, keinen Krawall. Aber es gibt einen Anteil meist schwarzer Jugendlicher, denen der Kragen platzt, die kaum Verantwortung übernehmen, nichts zu verlieren haben und es satt sind, ihr Leben als Außenseiter zu verbringen. Dies ist kein politisierter Widerstand gegen Sparpolitik, wie wir ihn in Griechenland, Spanien und anderswo sehen. Stattdessen ist es ein Gewaltausbruch aus der Sehnsucht heraus, zur Kenntnis genommen zu werden, Furcht einzuflößen. Nichts davon ist eine Entschuldigung, doch Politiker, die den Krawall als reine Kriminalität verdammen, liegen daneben – geradezu vorsätzlich.

Im britischen Parlament wird Tottenham durch den schwarzen Labour-Politiker David Lammy repräsentiert. Er ist Absolvent einer amerikanischen Eliteuniversität, er hat das Beste aus sich gemacht, herzlichen Glückwunsch. Aber er ist eine völlig andere Persönlichkeit als der Labour-Abgeordnete aus der Zeit, als ich hierhin zog. Bernie Grant war ein Hitzkopf, gestählt durch die Kämpfe gegen Rassismus und Diskriminierung, die er angeführt hatte. Er sprach eine Sprache, die nicht abgehoben war. Das gibt es bei Labour nicht mehr. Die Partei hat kaum noch Wurzeln im schwarzen innerstädtischen London und sicherlich nichts, das dem Ärger der Schwarzen so etwas wie Hoffnung oder Perspektive entgegensetzen könnte.

25 Jahre, nachdem ich nach Tottenham gezogen bin, gehen wir nun wieder weg. Ich fliehe nicht vor der ethnischen Mischung. Ich fliehe vor dem Niedergang einer städtischen Infrastruktur am Rande des Kollapses sowie dem Frust, den das hervorruft. Aber auch wegen des um sich greifenden Rückzugs ins Private, mit dem die Londoner Mittelschicht sich gegen das schützt, was sich vor unserer Haustür abspielt. Noch einmal 25 Jahre, das wäre zu viel. Es wird Zeit für etwas Neues. Aber wie viele hier haben diese Wahl?

Der Autor ist Verfasser

des Buchs „Breaking up Britain:

Four Nations after a Union“.

Übersetzt von Markus Hesselmann.

Mark Perryman

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