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POSITIONEN: Warum mich Obama zu Tränen rührte

Nach 100 Tagen steht fest: US-Präsident Barack Obama ist ein Geschenk an uns alle. Es erscheint wie die Auferstehung bester Traditionen der US-Demokratie und Kulturgeschichte bis hin zu Lincoln.

Obama, ein globales Vorbild an Charme und politischer Vernunft? Im Juni 1963 stand ich vor der FU Berlin, als ein eleganter Mann aus einem schickem Auto stieg: J.F. Kennedy. Die Nachricht von seiner Ermordung und der von Martin Luther King am 4. April 1968 haben mich tief erschüttert. Seitdem war mein politischer Lebensweg mit Entwicklungen in den USA eng verbunden: durch Vietnamkriegsproteste, Frauenantiatombewegung, die Friedensbewegung der 80er Jahre, gegen Reaganomics, Star Wars, das atomare Wettrüsten der Supermächte. Von einer 68erin wurde ich zur Mitorganisatorin der großen Bonner Friedensdemos für ein atomwaffenfreies Europa von Polen bis Portugal. Als ich auf der größten Friedensdemo in New York am 12. Juni 1982 für Millionen von Europäern redete, stand ich neben Pete Seeger, traf Joan Baez, Bruce Springsteen, Stevie Wonder und Jesse Jackson, der 1984 der erste schwarze Präsidentschaftskandidat der USA wurde. Die Inauguration von Obama war ein Déja-vu für mich, als ich sie im Fernsehen bei Freunden in Honolulu sah, die mich 1984 zu einer Rede gegen Atomwaffen eingeladen hatten. Obamas Wahl erscheint vollkommen neu, aber auch wie die Auferstehung bester Traditionen der US-Demokratie und Kulturgeschichte bis hin zu Lincoln. Und das nach Regierungen, die eine extreme Deregulierung von Finanzindustrie, Öl-, Rüstungs- und Medienkonzernen betrieben haben.

Schon auf dem Parteitag der Demokraten im Juli 2004, wo ich Talente gegen Bush und Cheney suchte, hatte ich erlebt, dass es Chancen für einen Neubeginn der europäisch-amerikanischen Beziehungen in der Zivilgesellschaft gibt. Beim „Black Caucus“ fand ich keine alten Kämpfer wie Lowery, der mich am 27. August 1983 beim Gedenken an den Marsch auf Washington Coretta King vorgestellt hatte. So suchte ich weiter, als plötzlich ein Raunen durch den Saal ging, als Obama seine Rede hielt. Ist er black, fragte ich, und woher kommt er? Neben Hillary schien mir nur ein Afroamerikaner mit Charisma die Wende schaffen zu können.

Da kam er in den Raum, noch von keiner Kamera umgeben. Ich nichts wie hin, mich vorgestellt als Friedensaktivistin, grüne Politikerin aus Berlin. Er war groß, schlank und viel cooler als die black leader, die ich aus den 80er Jahren kannte. Ein Händedruck, „please keep going“, auch Europa braucht einen anderen US-Präsidenten, „think green“! Mission erfüllt, zurück zum Tisch mit den Gewerkschaftern. Heute macht Obama eine andere Kubapolitik, er will die USA als Partner, globale Zusammenarbeit gegen Waffen- und Drogenhandel, die Schließung von Guantanamo, einen Dialog mit China und dem Iran. Was will man mehr in so kurzer Zeit in einem Land, in dem alte mächtige Lobbys nicht verschwunden sind?

Das Obama-Team braucht alle, die ihn respektieren, um das grausige Erbe des Irakkrieges wie die Mehrfachkrisen des wilden Casinokapitalismus aufzuräumen. Krugmann und Stiglitz hätte ich dazu lieber im Finanz- und Wirtschaftsministerium, Strafprozesse gegen Folterer und Kriegsverbrecher wären weltweit gut. Doch Obama muss Manager vieler Interessenkonflikte sein. Seine ausgestreckte Hand gegenüber Russland und dem Iran wurde, wie deren Reaktionen zur Rede in Prag zeigen, kaum angenommen. Bei der Berliner Rede jubelte ich, als er sagte, Atomwaffen müssten weltweit abgeschafft werden. Bei seiner Prager Rede hatte ich Tränen in den Augen.

Unsere globalen Kampagnen gegen Atomwaffen haben endlich ein Ohr bei einem US-Präsidenten gefunden, er ist bereit, historische Fehler der USA zuzugeben. Kein Messias, kein Superman, der alles heil und richtig macht. Doch mit seinem Hawaii-Charme setzt er mit Michelle zusammen globale geistige und mediale Standards für Vernunft und Dialog. Das ist ein Geschenk, das wir nicht gering schätzen sollten. „Yes we can“, ist nicht einfach ein Werbegag, es ist eine prophetische Aufforderung auch an uns Europäer für solidarische Zukunftsvisionen und für pragmatische Urteils- und Tatkraft.

Die Autorin ist Theologin,

Mitgründerin der Grünen und war Mitglied des Europaparlaments.

Eva Quistorp

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