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POSITIONEN: Wir brauchen die Vereinigten Staaten von Europa

Deutschland muss sich endlich entscheiden, welches Europa es zu verwirklichen wünscht: den als Binnenmarkt organisierten Bund souveräner Staaten oder einen souveränen Bundesstaat

Gefallen zu Karlsruhe, Anno Domini 2009. So könnte es auf dem Grabstein der Europäischen Union stehen. Zur Gedenkfeier sind die Alten versammelt, die ihr Erbe verschleudert sehen, von Politikern, die nicht mehren, was sie geerbt haben, und von Verfassungsrichtern, die aus dem Grundgesetz herauslesen, was so nicht drin steht.

„Europa selbst ist die Hauptsache“, sagte Konrad Adenauer 1952 seinem Gesprächspartner Ernst Friedländer und fügte hinzu: „Ein geeintes Europa wäre auch dann ein zwingendes Erfordernis, wenn es überhaupt keine sowjetische Gefahr gäbe. Die europäischen Nationalstaaten haben nur noch eine Vergangenheit, aber keine Zukunft.“ Die Damen und Herrn Bundesverfassungsrichter schenken dem keinen Glauben. Dem politischen Ziel, einen europäischen Bundesstaat zu errichten, versuchen sie einen richterlichen Sperrriegel vorzuschieben: „Das Grundgesetz ermächtigt die für Deutschland handelnden Organe nicht, durch den Eintritt in einen Bundesstaat das Selbstbestimmungsrecht des Deutschen Volkes in Gestalt der völkerrechtlichen Souveränität Deutschlands aufzugeben.“ Wo im Grundgesetz steht das?

Der Nationalstaat wird zur Monstranz erhoben und mit einer verfassungsrechtlich verbrämten, aber politisch motivierten Existenzgarantie versehen. Ein verdrießlicher Politiktext, dieses Urteil, gespickt mit subjektiven Interpretationen und persönlichen politischen Präferenzen. Befestigt und geschützt wird die Nationalstaatsbastion mit verfassungsrechtlich aufgetürmten Hürden, die zu überwinden in der Erbengeneration kaum jemand den politischen Mut und die politische Autorität haben dürfte. Einen europäischen Bundesstaat soll es nur geben dürfen, wenn sich die Bundesrepublik zuvor eine neue Verfassung gibt – ja, waren Adenauer und Kohl, Brandt und Schmidt, Scheel und Genscher denn Verfassungsfeinde?

Zeitpunkt und Inhalt des Urteils aus Karlsruhe kommen vielleicht gerade noch rechtzeitig, um jenen die Augen zu öffnen, die seit langem Europa den Rücken gekehrt haben. So erschreckend wie das Urteil selbst ist nämlich die selbstzufriedene Reaktion der politisch Verantwortlichen darauf. Statt zu erkennen, dass Karlsruhe das Vakuum nutzt, das säumige Politiker geschaffen haben, finden sich alle durch das Urteil bestätigt: die angeblichen Europa-Befürworter in den etablierten Altparteien, weil sie gar nicht wissen, welches Europa sie eigentlich meinen, und die neuen linken Europa-Gegner, weil ihr verblasener Populismus – wie die behauptete „Militarisierung Europas“ – den Mangel eines eigenen Konzepts geschickt zu verdecken sucht.

Was ist zu tun? Lissabon darf an Deutschland nicht scheitern. Der Vertrag muss mit den von Karlsruhe verfügten Korrekturen ratifiziert werden. Doch mit oder ohne Lissabon muss Deutschland sich endlich entscheiden, welches Europa es zu verwirklichen wünscht: den als Binnenmarkt organisierten Bund souveräner Staaten oder einen souveränen Bundesstaat, sprich die Vereinigten Staaten von Europa.

Kaum jemals nach dem Zweiten Weltkrieg war die Weltpolitik so sehr in unordentlicher Bewegung wie heute. Nur als handlungsfähiger Bundesstaat kann Europa seine Interessen wahrnehmen – nun sogar in Partnerschaft mit einem amerikanischen Präsidenten, wie die meisten Menschen auch diesseits des Atlantiks ihn sich sehnlichst gewünscht haben. Doch weder er noch die chinesische oder russische Führung werden sich lange mit 27 verschiedenen europäischen Regierungschefs aufhalten – wohl aber versuchen, aus der europäischen Rivalität Vorteile zu ziehen. In den Konfliktregionen wie Afghanistan zahlt Europa schon heute einen hohen, auch blutigen Preis für seine Nicht-Einheit und ist den Washingtoner Entscheidungen nahezu einflusslos ausgeliefert.

Soll es da wirklich das letzte Wort sein, dass es laut Lissabon nicht nur keinen EU-Außenminister geben wird, sondern im Amtstitel des 1997 eingeführten Hohen Vertreters für die Außen- und Sicherheitspolitik sogar das Wörtchen „Gemeinsam“ gestrichen und mit zwei Protokollerklärungen die uneingeschränkte Zuständigkeit der Hauptstädte für „Formulierung“ und „Durchführung“ ihrer „Außenpolitik“ beschworen wird? Wollen wir uns wirklich mit dem Rückfall in die Nationalstaaterei abfinden in einem Moment, da die USA und China ihren strategischen Dialog über die ökonomischen Fragen hinaus auf die große Sicherheitspolitik ausweiten?

Europa, sagt der CSU-Ehrenvorsitzende Theo Waigel, hat uns Deutschen „die Ehre wiedergegeben“. Das klingt emotional, hat aber den Vorteil, dass es stimmt. Die im Grundgesetz ausdrücklich verankerte Verpflichtung, „in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“, hat den Weg zur Überwindung der Spaltung Europas und Deutschlands offengehalten und die deutsche Einheit für die europäischen Nachbarn akzeptabel gemacht. Und die europäische Währung Euro – Beweis für einen gewollten und folgenreichen Souveränitätsverzicht der Nationalstaaten – dient uns in Zeiten der Wirtschaftskrise als Stabilitätsanker, ohne den die Exportnation Deutschland dem Treiben der Spekulanten ausgesetzt wäre.

Soll das alles nicht mehr gelten? Berlin ist in der Pflicht, der europäischen Integration einen neuen, auf den europäischen Bundesstaat gerichteten Anstoß zu geben. Der Nationalstaat ist Vergangenheit, es sei denn, ausgerechnet wir Deutschen wollten die überwunden geglaubte Vergangenheit wieder zur Zukunft erwecken. Versprochen ist unsern Nachbarn etwas anderes: ein europäisches Deutschland, nicht aber ein deutsches Europa. „Es gibt tatsächlich politische Gelegenheiten, wo man mit Teilmaßnahmen stecken zu bleiben droht und dann nur den Mut zum Ganzen haben muss, um doch weiterzukommen. Mut und Angst wohnen zuweilen nahe beieinander.“ Adenauer sagte es 1952 und handelte danach. Haben seine Erben die Kraft, dem gerecht zu werden?

Der Autor war Chefredakteur des Tagesspiegels und von 1998 bis 2002 Staatssekretär im Verteidigungsministerium. Er ist Senior Distinguished Fellow bei der SWP.

Walther Stützle

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