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Meinung: Potenzial von Riesen

Europa braucht mehr Unternehmer, eine bessere Ordnungspolitik und offene Märkte / Von Patricia Hewitt

POSITION

Das gestrige Treffen von Tony Blair, Jacques Chirac und Gerhard Schröder hatte vor allem ein Ziel: der wirtschaftlichen Reformagenda in Europa neues Leben einzuhauchen.

Das niedrige Wachstum in Deutschland, die hohe Arbeitslosigkeit in Frankreich und die stete Abwanderung von Arbeitsplätzen in Richtung Osten zeigt, dass die Globalisierung inzwischen nicht mehr ökonomische Theorie, sondern nackte Tatsache ist, für Mitarbeiter von Callcentern und Fabriken ebenso wie für die privaten Haushalte in ganz Europa. Die Welt verändert sich, und so muss sich auch Europas Rolle in der Welt ändern. Neue Märkte bringen neue Chancen, aber auch neue Konkurrenz und neue Probleme.

Die Einigung auf die Lissabonner Agenda im Jahre 2000 zeigte, dass ein Umdenken stattfand, wie es viele nicht für möglich gehalten hätten. Europa erhob den Anspruch, binnen eines Jahrzehnts zum leistungsfähigsten Wirtschaftsraum der Welt zu werden und hochwertige Güter und Dienstleistungen herzustellen, die die übrige Welt kaufen würde. Bürokratie sollte durch Unternehmergeist abgelöst werden, Intervention durch Innovation. Europa war immer schon reich an Ideen. Nun ging es uns darum, Schranken abzubauen und diese Ideen in Wohlstand und Arbeitsplätze umzusetzen.

Vier Jahre später zeigt sich jedoch, dass die Reform in Europa doch hin und wieder ins Stocken geraten ist. Guten Vorsätzen sind nicht immer Taten gefolgt. Bei zu vielen EU-Richtlinien besteht die Gefahr, dass sie Unternehmen aus Europa vertreiben.

Europa – der größte gemeinsame Markt der Welt – hat ein riesiges Potenzial. Wir haben Forscher, Unternehmer, Hochschulen und Unternehmen, die zu den besten der Welt zählen. Aber wir müssen sie besser miteinander vernetzen und quer durch die ganze erweiterte EU Innovationspartnerschaften aufbauen.

Heute bietet sich uns die Chance, der Lissabonner Agenda neuen Auftrieb zu verschaffen. Frankreich modernisiert seine Konzepte der Industrieförderung. Deutschlands Arbeitsminister hat unsere beschäftigungspolitischen Leistungen als „Inspiration für Europa“ bezeichnet. In Großbritannien bemühen wir uns jetzt um jene Anbindung der Forschung und Technologie an die Wirtschaft, die in Frankreich und Deutschland seit langem existiert.

In den nächsten zwei Jahren muss die europäische Tagesordnung von drei Themen bestimmt werden, unterstützt von einer Folge von Ratspräsidentschaften, die hierfür aufgeschlossen sind.

Erstens, Unternehmertum und Beschäftigungswachstum. Heute sind fünf Millionen mehr Europäer erwerbstätig als vor fünf Jahren. Aber dreimal so viele sind nach wie vor arbeitslos und 18-mal so viele sind wirtschaftlich inaktiv. Neue Arbeitsplätze entstehen zunehmend nicht mehr in der kleinen Zahl großer Firmen, sondern in einer großen Zahl kleiner Firmen, und deshalb gehört die Förderung unternehmerischer Initiative untrennbar zu den Zielen der Beschäftigungspolitik.

Zweitens, eine bessere Ordnungspolitik. In Europa dürfen keine neuen Vorschriften erlassen werden, wenn sie nicht den Wettbewerbsfähigkeitstest bestehen: Fördern sie die Beschäftigung? Öffnen sie die Märkte? Fördern sie unsere Wettbewerbsfähigkeit weltweit? Der Entwurf der Chemikalienrichtlinie, der im letzten Jahr von Präsident Chirac, Bundeskanzler Schröder und Premierminister Blair öffentlich kritisiert wurde, bestand diesen Test nicht. Und trotz der Änderung des Entwurfs, mit der die infolge dieser Richtlinie erwartete Belastung der Industrie schon um rund 10 Milliarden Euro reduziert wurde, muss noch viel getan werden, bevor wir uns sicher sein können, dass sie tatsächlich – was wir alle wollen – den Arbeitsschutz verbessert, ohne lediglich die Industrie aus unseren Ländern zu vertreiben.

Großbritannien, Frankreich, Deutschland und Irland stehen voll hinter diesem Vorschlag für eine bessere Regulierung. Und die Finanzminister haben vereinbart, dass der Ecofin-Rat zusammen mit einem gestärkten Wettbewerbsrat ein Zweijahresprogramm zur Vereinfachung der europäischen Vorschriftenlast starten sollte – eine Chance, die sich die Wirtschaft nicht entgehen lassen darf.

Drittens muss Europa im Zuge der weiteren Öffnung eine führende Rolle bei der Wiederbelebung der Doha-Welthandelsrunde spielen. Offenere Märkte – innerhalb eines ebenso freien wie fairen globalen handelspolitischen Regelsystems – kommen den europäischen Verbrauchern, Sparern und Unternehmen zugute. Deshalb müssen wir die Reform der gemeinsamen Agrarpolitik voranbringen und unsere ländlichen Gemeinschaften unterstützen, ohne auf marktverzerrende Subventionen zurückgreifen zu müssen. Europas Angebot, die Exportsubventionen für alle Produkte zu streichen, die für die Entwicklungsländer von Interesse sind, ist kein Verhandlungstrick: Es ist der Weg, das zu erreichen, was die Entwicklungsländer am meisten brauchen – ein Ende der Exportsubventionen, durch die ihre Bauern so großen Schaden erleiden.

Nachdem China in die WTO aufgenommen wurde, Indien jetzt eine Million Hochschulabsolventen pro Jahr hervorbringt und die EU um zehn neue Staaten größer wird, hat Europa keine andere Wahl, als sich der Reform zu stellen. Unser wirtschaftliches Potenzial ist riesig, aber wenn wir unser ökonomisches Verhalten nicht ändern, werden unsere Beschäftigung und unser Wohlstand den Schaden davontragen – vielleicht für immer.

Die Autorin ist britische Ministerin für Handel und Industrie. Foto: PA

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