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Meinung: Pragmatisch, patriotisch, Prag

Europa mal ganz unwissenschaftlich: Es lebt von Assoziationen und Gefühlen / Von Jiri Grusa

Europa wird größer. Was kann die bald 450 Millionen Europäer verbinden? Wo liegen die Gemeinsamkeiten, wo die Meinungsverschiedenheiten? In einer gemeinsamen Serie von Tagesspiegel und DeutschlandRadio Berlin suchen prominente Europäer Identität und Perspektiven des künftigen Europa. Zu hören sind die Beiträge sonntags um 12 Uhr 10 im DeutschlandRadio Berlin (UKW 89,6).

Bereits vor gut zehn Jahren sprach ich von einer „Bundesrepublik Europa“ – als modernes und zukunftsweisendes Konzept. Im Tschechischen klingt diese Bezeichnung wirklich fantastisch: Spolkova Republika Evropa. Ich erzählte von einem föderalen Gebilde, im Sinne einer karolingischen Tradition. Doch dieser Carolus hieß Quartus – also Karl IV., der Luxemburger auf dem Prager Thron. Ich halte seine Leistung für eines der klügsten Konzepte für Europa.

Drei Hauptethnien auf unserem Kontinent schlossen sich damals zusammen mit ihren Sprachen: Romanisch, Germanisch und Slawisch. Es hat funktioniert – weil es freiwillig und klug war! Prag war somit ganz pragmatisch im klassischen Sinne: ein Stern auf einer milden Bahn. Es strahlt bis heute die Kraft jener Tage aus. Das alte römische Reich war ein Bundesstaat. Zwar keine Republik, aber eine res publica, also eine gemeinsame Sache, ganz bestimmt!

Unser Europa war auch ein kriegerisches Gebiet. Es brachte schon immer Menschen hervor, die überzeugt waren, dass Fundamente Blut brauchen. Dass es nur eine Wahrheit gibt, die siegt, wenn man ansticht.

Unsere Gotteskämpfer – die Hussiten –, zum Beispiel, glaubten an eine solche Wahrheit. Sie sind nach dem Großen und Vierten Karl gekommen, und mit ihnen endete die Blütezeit in einer Zeit des Blutes. Sie brachte uns die erste Erfahrung mit und für Europa. Man kann sich sehr schnell am Rande des Geschehens finden, wenn man der Kern der Welt zu sein glaubt. Die Wahrheit siegt nämlich auch gegen uns.

Die zweite „czechmade" Erfahrung könnte man so zusammenfassen: Das Wesen ist ortlos. Selbst Geografie ist nicht beständig. Wir erinnern uns, Kolumbus hat Amerika entdeckt, und aus der mittigsten Mitte, wo wir lebten, ist ein Osten geworden. Aus Spanien, einst am Rande der Ränder – böhmische Dörfer nennen wir in unserer Sprache spanische Dörfer – kam ein Habsburger und machte uns zur Provinz.

Da lebten wir eng verbunden mit der deutschsprachigen Umwelt und kreierten zwei Varianten der Sinnstiftung – oder des Ressentiments. Die Böse und die Gute.

Die Böse war katholisch, also schwarz. Sie sprach über den Habsburger, die Vertreibung der Protestanten und Pauperisierung der restlichen Tschechen. Sie verstand die Jahrhunderte der Gemeinsamkeit ausschließlich als Bevormundung. Und das Ende der Monarchie, das Zusammenleben mit den österreichischen Landsleuten, als eine Art Erwachen aus dem Alptraum.

Die Gute war lutheranisch, hussitisch, weiß, kannte Premysliden und Luxemburger, den böhmischen Ständestaat, den Widerstand gegen die römische Obskuranz, die Wiedergeburt und den Fleiß des Volkes, bis zu der Wiederherstellung unserer Staatlichkeit.

Die beiden Sinnstiftungs-Storys scheinen ausgedient zu haben. Manche weinen dieser einfachen Zweideutigkeit nach. Viele jedoch haben fast luxemburgische Vorgefühle. Ist eine Bundesrepublik Europa in Reichweite?

Dieses Gleichnis ist kaum wissenschaftlich, aber Metaphern sind nie nur ein Gefühl.

Auch unsere Erfahrung mit der Entdeckung Amerikas, die uns provinzialisierte, mutet seltsam an. Sehr aktuell jedenfalls. Lasst uns das Transozeanische nicht unterschätzen.

Ungeachtet der Unwissenschaftlichkeit: Vier Sentenzen seien erlaubt.

Erstens: Europa kann nicht an der Trigenität vorbei. Ein Präsident der Europäischen Union muss künftig auch ein slawisches „Guten Tag" in seiner Tasche haben.

Zweitens: Die Erweiterung ist zugleich Komplettierung, Wiederherstellung der uralten europäischen Basis.

Prag und das Pragma von einst sind kein schlechter Stabreim für unsere Zukunft. Falls Europa nach einem neuen Sitz der Trigenität suchen sollte, lassen Sie es uns wissen.

Drittens: Niemand von uns hat die Wahrheit, höchstens das Risiko, sie nicht zu erkennen.

Die Demokratie ist die Tochter Europas. Einst flüchtig und vertrieben kehrte sie mit Hilfe Amerikas zurück. Sie kann sich halten und gedeihen – wenn sie dies nicht vergisst.

Und noch eine pragerisch-pragmatisch-patriotische Bemerkung: Die Vergangenheit vergeht heute schneller, als die Zukunft kommt. Politisieren wir sie also nicht, die Vergangenheit. Die Wahrnehmung der Gegenwart ist das Pragma von heute.

Der Autor ist Schriftsteller und Diplomat. Er gehörte zur Dissidentenbewegung Charta 77 und war nach der Wende Tschechiens Botschafter in Deutschland. Foto: privat.

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