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Meinung: Praktisch außer Kontrolle

Die Kinderlähmung kommt wieder

Alexander S. Kekulé Irrationale Vorurteile gegen Impfungen gibt es nicht nur bei uns. In Nigeria halten große Teile der Bevölkerung den Impfstoff gegen Kinderlähmung für ein Teufelszeug, mit dem der weiße Mann seine schwarzen Brüder und Schwestern vernichten will.

Vor allem im muslimischen Norden der westafrikanischen Republik warnen fanatische Religionsführer vor angeblichen Verunreinigungen, die Mädchen unfruchtbar machen und obendrein Aids verursachen sollen. Seit einem Jahr wird deshalb in weiten Teilen des Landes nicht mehr geimpft – mit dramatischen Folgen: Unter den sechs Ländern der Erde, in denen noch Ansteckungen mit dem Poliovirus vorkommen, steht Nigeria mit 383 registrierten Fällen an einsamer Spitze, gefolgt von Indien mit 25 Fällen.

Dabei sind die gemeldeten Erkrankungen nur die Spitze eines Eisberges, weil nur einer von 200 Infizierten die gefürchtete Kinderlähmung (Poliomyelitis) bekommt, die zu lebenslangen Behinderungen und – bei 5 bis 10 Prozent – zum Tod durch Atemlähmung führt. Doch auch unbemerkt Infizierte, die höchstens ein diffuses Unwohlsein und Durchfälle bemerken, sind hoch ansteckend. Weil sich das Virus über mit Fäkalien verunreinigtes Wasser ausbreitet, waren die Regenzeiten früher für ihre Polio-Epidemien berüchtigt.

Durch die Impfkampagne der WHO ist die Kinderlähmung eigentlich weltweit auf dem Rückzug: Von geschätzten 350 000 Fällen 1988 ist die Zahl auf 483 im Jahre 2001 gesunken, außer einigen Regionen in Afrika und Südasien gilt die Erde heute als beinahe poliofrei. Knapp zwei Milliarden Kinder wurden geimpft, über drei Milliarden Dollar hat die gigantische Kampagne bisher gekostet. Bis Ende 2005, so das ehrgeizige Ziel der WHO, soll die Menschheit von der Kinderlähmung – als zweite Krankheit nach den Pocken – für immer kuriert sein.

Der jetzige Ausbruch in Nigeria könnte dieses Ziel jedoch in weite Ferne rücken lassen. Das Virus hat sich von hier aus bereits in zehn andere afrikanische Staaten ausgebreitet, die vorher als poliofrei galten. Dort müssen die WHO-Ärzte jetzt durch gründliche Untersuchungen und Impfung von Kontaktpersonen versuchen, eine weitere Verbreitung zu verhindern. Das ist jedoch nicht überall möglich: Seit einigen Wochen steht fest, dass das Poliovirus auch in den Sudan eingeschleppt wurde. Wenn sich der Erreger im Westen des Landes ausbreiten sollte, wäre er praktisch außer Kontrolle. In den Lagern um Darfur, wo Zehntausende auf der Flucht vor Todesreitern und Hunger zusammengepfercht sind, stehen Durchfallerkrankungen auf der Tagesordnung, sogar die Ruhr ist kürzlich ausgebrochen – ideale Voraussetzungen für das Poliovirus, sich massiv und unerkannt auszubreiten.

Die humanitäre Katastrophe im Westsudan könnte deshalb auch für den Rest der Welt zu einer Bedrohung werden. Da in vielen entwickelten Ländern nicht mehr geimpft wird, hätte die Einschleppung der Kinderlähmung hier katastrophale Folgen.

Die EU und die Vereinten Nationen müssen deshalb schnell und entschlossen handeln. Auf internationalen Druck hin hat Nigeria immerhin am Samstag endlich wieder mit den Schluckimpfungen begonnen. Ob die WHO die neu aufflackernden Seuchenherde noch „austreten“ kann, wird sich jedoch erst in den kommenden Monaten zeigen. Im Sudan ist dafür höchste Eile geboten – in diesen Tagen beginnt die Regenzeit.

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