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Kein Aufgeben. In Istanbul wird weiter demonstriert.

© dpa

Proteste in Istanbul: Erdogan und die vertane Chance

Erdogan stellt gerade sein Lebenswerk infrage: Die vielen demokratischen Fortschritte des Landes erscheinen plötzlich als papierdünn und oberflächlich.

Mag sein, dass nicht alle Demonstranten in der Türkei auf Gewaltfreiheit setzen und dass es Gruppen unter ihnen gibt, die Randale und Krawall suchen. Auch über die Frage, wie lange ein zentraler Platz im Herzen der größten Stadt des Landes außerhalb der Kontrolle der Polizei bleiben kann, lässt sich reden. Doch der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan ist drauf und dran, eine große Chance für eine Entspannung der Lage zu vergeben. Durch den Polizeieinsatz am Dienstag in Istanbul hatte er ohnehin schon viel von seiner Glaubwürdigkeit im Umgang mit der Protestbewegung verspielt. Am Mittwoch traf er sich zwar mit Demonstranten, deutete aber gleichzeitig ein erneutes hartes Vorgehen der Sicherheitskräfte an. Das ist nicht nur schlecht für die Türkei im Innern, sondern auch für ihr Verhältnis zu Europa.

Das hätte nicht sein müssen. Seit Tagen sagt Erdogan, er wolle mit den friedlichen Demonstranten sprechen, lehne aber Zugeständnisse an gewaltbereite Protestierer ab. An dieser Position wäre eigentlich nichts auszusetzen, aber der 59-jährige Premier muss sich fragen lassen, was er mit dem Ausdruck der Gesprächsbereitschaft bezwecken will. Wenn er sagt, es werde ab sofort kein Nachsehen mehr den Demonstranten gegenüber geben, klingt das nicht nach Dialog.

Am Mittwoch wurde Erdogan mit der Bemerkung zitiert, nun werde alles schnell vorbei sein. Die Istanbuler Behörden deuteten unterdessen einen baldigen Angriff auf das Protest-Camp im Gezi-Park an. Kurz darauf setzte sich Erdogan mit den Vertretern der Protestbewegung an einen Tisch. Angesichts der offenbar laufenden Vorbereitungen für einen weiteren Großeinsatz von Tränengas und Wasserwerfern sah es nicht so aus, als ob es bei der Unterredung noch viel zu diskutieren gab.

Erdogan setzt darauf, dass seine harte Haltung bei den Wahlen im nächsten Jahr belohnt wird. Am kommenden Wochenende startet seine Partei AKP offiziell in den Kommunalwahlkampf, außerdem will sich Erdogan im Sommer 2014 zum Präsidenten wählen lassen. Sein Kalkül läuft darauf hinaus, dass fast die gesamte Wählerschaft der AKP, die bei den Parlamentswahlen im Jahr 2011 fast 50 Prozent der Stimmen einfuhr, ein hartes Vorgehen der Polizei befürwortet. Hinzu kommen nationalistische Türken, die zwar normalerweise die Rechtspartei MHP wählen, den harten Erdogan-Kurs aber ebenfalls unterstützen.

Die Folgen dieser Überlegungen für den inneren Frieden der Türkei sind verheerend. Doch auch außenpolitisch sind die Unruhen in der Türkei eine Tragödie. Bisher konnte sich die Türkei als muslimische Demokratie präsentieren, als Beispiel für eine ganze Weltgegend. In dem Maße, in dem Erdogan den Eindruck eines Regierungschefs vermittelt, der Andersdenkende als Gefahr auffasst, stellt er diese Modellfunktion infrage. Auch für die Europa-Ambitionen der Türkei sind die Ereignisse ein schwerer Schlag. Die EU hoffte bisher auf eine stabile demokratische Entwicklung am Bosporus und auf Fortschritte bei der praktischen Zusammenarbeit jenseits der Frage, ob das Land eines Tages Mitglied der EU sein wird oder nicht.

Diese Frage der Mitgliedschaft hat sich nun erst einmal erledigt. Nicht einmal die Freunde der Türkei in den Reihen der EU wie die Briten können sich auf absehbare Zeit für eine Aufnahme des Landes starkmachen. Erdogans Regierung sagt zwar, große Unruhen habe es auch in EU-Ländern schon gegeben, wie etwa in Griechenland, doch dieser Hinweis wird ihm in Europa kaum neue Türen öffnen. Die Türkei gibt seit zwei Wochen das Bild eines Landes ab, in dem Teile der Bevölkerung mit weitgehend friedlichen Protestaktionen gegen die Regierung eine heftige und gewalttätige Repression durch die Behörden ausgelöst haben.

Das lässt die vielen demokratischen Fortschritte des Landes in den vergangenen Jahren plötzlich als papierdünn und oberflächlich erscheinen. Positive Entwicklungen wie die eindrucksvolle Stärkung der türkischen Zivilgesellschaft treten ebenfalls in den Hintergrund. Mit seiner Haltung stellt Erdogan einen Teil seines eigenen Lebenswerkes infrage.

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