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Das Denkmal für den deutschen Reformator Martin Luther steht in Wittenberg.

© dpa

Reformationstag: Die Lehren der Revolution

Reform und Toleranz schließen einander aus: Das zeigt Luthers Reformation. Denn jede Umgestaltung definiert neue Sieger und Verlierer - Minderheiten werden verfolgt und Andersdenkende abgewertet. Das sollte auch bei einer Reform der EU bedacht werden.

Martin Luther berief sich auf das Gewissen, er beschwor die „Freiheit eines Christenmenschen“ und plädierte für Gewaltlosigkeit in Glaubensdingen. „Predigen will ich’s, sagen will ich’s, schreiben will ich’s. Aber zwingen, mit Gewalt dringen, will ich niemanden, denn der Glaube will willig, ungenötigt angenommen werden“, schrieb der Reformator. Niemand sollte mehr als „Ketzer“ verfolgt werden. Heute würde man eine solche Haltung „tolerant“ nennen.

Doch als die Reformation Fahrt aufgenommen hatte, war schnell Schluss mit der Toleranz gegenüber Andersgläubigen. Die Reformatoren in Wittenberg, Genf und Zürich hetzten nicht nur gegen Katholiken, Juden, und Muslime. Auch wer in den eigenen Reihen von den neuen Lehren abwich, wie etwa die Wiedertäufer oder in den späteren Jahrhunderten die Mennoniten, Baptisten oder Methodisten, wurde gnadenlos verfolgt.

An dieses dunkle Erbe erinnert die evangelische Kirche mit dem heutigen Reformationstag und dem damit beginnenden Themenjahr „Reformation und Toleranz“. Zu Recht. 2017 will die Kirche 500 Jahre Reformation feiern, unhistorische Lobhudelei wäre falsch.

Die Frage nach der Toleranz der Reformatoren berührt aber nicht nur die Kirche. Geht nicht jede große Reform, jeder politische Aufbruch mit Intoleranz einher? Hat nicht jede gesellschaftliche Utopie einen intoleranten Kern?

Luther war ein Mann des Mittelalters. Eine Welt ohne religiösen Wahrheitsanspruch oder eine Welt, in der Wahrheitsansprüche nebeneinander existieren, konnte er sich nicht vorstellen. An pluralistische Gesellschaften sind wir heute gewöhnt, zumindest theoretisch. Doch auch in Osteuropa haben die Reformen der vergangenen Jahre dazu geführt, dass Andersdenkende abgewertet, Minderheiten verfolgt, autoritäre Macher beliebt sind. Im Furor des Aufbruchs werden aus konkurrierenden Weltsichten schnell einseitige Machtansprüche. Das hat sich auch in den arabischen Ländern gezeigt, wo von dem revolutionären Ruf nach Demokratie und Pluralismus nicht viel geblieben zu sein scheint.

Jede Reform zieht Grenzen und definiert neue Sieger und Verlierer. Umbrüche gefährden feste Identitätsmuster und befördern das Denken in Freund-Feind-Kategorien. Wenn über eine Reform der EU nachgedacht wird, über ein „Europa der zwei Geschwindigkeiten“, geht es darum, diejenigen, die sich nicht in das vorherrschende Modell integrieren wollen, auszuschließen. Mit Pluralismus hat das nicht viel zu tun. Auch die Säkularisierung führt nicht zu mehr Toleranz. Früher waren die säkularen Lebensformen verdächtig, heute sind es die religiösen.

Alles beim Alten zu lassen, ist keine Alternative. In einem Land, das durch Luther nicht wachgerüttelt wurde – und er hat ja die katholischen Länder mit durchgerüttelt – würden die meisten von uns wohl nicht leben wollen. Aber aus der Reformation zu lernen, bedeutet eben auch zu begreifen, dass Reform und Toleranz, Reform und Pluralismus einander ausschließen. Zumindest in der heißen Phase.

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